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Analyse

„Eine andere Stadt für ein anderes Leben“ – Das Projekt ARCH+ und der Geist von 1968

INGRID GILCHER-HOLTEY

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Abstract

Verweise

Index

I. Eine andere Stadt für ein anderes Leben

II. Homo ludens

III. Geschichte ist machbar

IV. Erwartungshorizonte und Strategien

V. Deutungskämpfe

VI. (Re)Volution der Revolution

Die Historikerin Ingrid Gilcher-Holtey skizziert in ihrem Beitrag die intellektuellen und zeitgeschichtlichen Hintergründe der 68er Bewegung und ihre internationalen Verflechtungen. Die Zeitschrift ARCH+ fügt sie anhand des jahrzehntelangen Redakteurs und Mitherausgebers Nikolaus Kuhnert in dieses Panorama ein.

Der Text wurde für das Forschungsprojekt "Innovationsgeschichte im Spiegel der Zeitschrift ARCH+" verfasst und erschien erstmals auf dieser Website im Juli 2021. Zitationsvorschlag: Gilcher-Holtey, Ingrid: "'Eine andere Stadt für ein anderes Leben'. Das Projekt ARCH+ und der Geist von 1968", in: Dokumente der Architektur, 2021 (https://beta.dokumentederarchitektur.de/analysis/Eine-andere-Stadt-fr-ein-anderes-Leben-Das-Projekt-ARCH-und-der-Geist-von-1968)


Redaktion:
Leo Herrmann, Sandra Oehy

© IGmA/BBSR

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ARCH+

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„Eine andere Stadt für ein anderes Leben“ – Das Projekt ARCH+ und der Geist von 1968

Ingrid Gilcher-Holtey

„‘1968‘ ist eine Jahreszahl, in die sich das Imaginäre eingenistet hat“, schrieb Hans Magnus Enzensberger in Notizen zu seinem Tagebuch. Auf den Begriff zu bringen, was „1968“ geschah – oder gar „sich einen Vers darauf zu machen“ – erschien ihm, unmittelbar konfrontiert mit den Ereignissen, unmöglich. Als einzige Form, sich mit „1968“ auseinanderzusetzen, betrachtete er die Collage.1 Der nachfolgende Beitrag versucht, in sechs Szenen den Zusammenhang zwischen der Architekturzeitschrift und dem magischen Jahr zu erfassen. Die Szenen führen an Schauplätze der Proteste, holen zentrale Ereignisse durch Erzählung zurück, stellen Protagonisten2 und deren Texte vor, skizzieren Handlungskontexte, Interaktionen und Effekte. Die Szenen-Collage entfaltet einen Bilderreigen, akzentuiert Teile; das Ganze einzufangen vermag und beansprucht sie nicht.

I. Eine andere Stadt für ein anderes Leben

1965: Alexander Mitscherlich, 57, Leiter der Klinik für Psychosomatische Medizin in Heidelberg sowie des Siegmund-Freud-Instituts in Frankfurt am Main, wählt die Gattung des Pamphlets, um auf „den Trübsinn der Zeit in einer Sache aufmerksam zu machen, die sich ändern ließe.“3 Vehement kritisiert er in Die Unwirtlichkeit unserer Städte. Anstiftung zum Unfrieden (1965) die Misere des Wiederaufbaus, die Monotonie der Fensterreihen, die Herzlosigkeit und Unwirtlichkeit der Bauweise, die Besitz- und Eigentumsstrukturen, aber auch mangelndes politisches Engagement. Die Stadtplanung steht für ihn auf der Seite der Selbstdestruktion und Kulturvernichtung.4 Keine neuen Ideen des Wohnens sind – aus seiner Sicht – zum Zuge gekommen nach 1945.5 Mit seiner Kritik will Mitscherlich zur Verwirklichung einer „Utopie“ beitragen, die der Stadt die Möglichkeit erhält, „Raum des denkenden Aufstandes zu bleiben, in Formen, die es zu finden gilt“.6

Was ihn antreibt, sind die Fragen: Wie können Städte anders als nach kommerziellen Interessen und Verkehrszwängen organisiert werden? Wie lassen „kleine Einheiten der affektiven wie der im weitesten Sinn interessierten Kommunikation sich bilden und erhalten“7? Menschen schaffen sich in Städten einen Lebensraum, so seine Prämisse, aber die Stadtgestalt schafft „am sozialen Charakter der Bewohner mit“.8 Den Zusammenhang zwischen Bauen, Wohnen, Kommunikation und demokratischer Partizipation betonend, zieht Mitscherlich zwanzig Jahre nach Ende des Zweiten Weltkrieges eine kritische Bilanz: „Wir haben planerisch und architektonisch unbrauchbar restauriert und sind vorerst nur zu einer uns oktroyierten Demokratie gediehen.“9 Die einzige Chance einer grundlegenden Veränderung sieht er in einer „seit langem fällige[n] deutschen Revolution“, die sich seine These von der Neuordnung der Besitzverhältnisse an Grund und Boden in unseren Städten zu eigen mache. Doch konstatiert er bereits im Vorwort: „Deutschland beruhige dich – sie wird nicht kommen, die Revolution. Es wird alles beim Alten bleiben.“10

Parallel zu Mitscherlich arbeitet in Frankreich der Soziologe Henri Lefebvre, 64, Mitte der 1960er Jahre an einer Kritik des Urbanismus und der funktionalistischen Architektur. Seine Studien decken die Entfremdung in städtischen Räumen auf, die das Alltagsleben der Menschen in Arbeit, Freizeit und Privatheit zerlegen. Seine Arbeiten werden flankiert und ergänzt durch den 1920 in Amsterdam geborenen Maler und Bildhauer Constant Anton Nieuwenhuys. Die Städte mit „Friedhöfen aus Stahlbeton“ vergleichend, „in denen sich große Bevölkerungsmassen zu Tode langweilen müssen“, stellt Constant, wie er im zeitgenössischen Kontext firmiert, der Unwirtlichkeit der Städte ein soziales Konzept des Urbanismus, den „unitären Urbanismus“, entgegen. Es sieht vor, das „Stadtnetz als natürliche Ausdrucksform einer kollektiven Kreativität“ zu betrachten, „die imstande ist, die schöpferischen Kräfte zu umfassen, die sich gleichzeitig mit dem Verfall einer auf dem Individualismus beruhenden Kultur befreien“. Er entwirft Pläne und Modelle nach der Maxime: „Eine anderen Stadt für ein anderes Leben.“11

Lefebvre und Constant sind Mitglieder der Situationistischen Internationale (SI), die in der Tradition des Dadaismus und Surrealismus steht. Die SI prangert die Proletarisierung der Wohnbedingungen, die der architektonische Funktionalismus verursacht habe, als „kapitalistische Dressur des Raumes“ an.12 Der „unitäre Urbanismus“, den sie vertritt, will eine neue städtische Zivilisation schaffen, die Trennung zwischen Arbeit und Freizeit aufheben, die Verhaltensweisen der Menschen umwälzen, den Lebensstil verändern. Zusammenarbeit mit Parteien der Linken und Gewerkschaftsorganisationen lehnen die Situationisten ab. Es ist die Emanzipation des Individuums, die sie erstreben, durch die kollektive „Konstruktion von Situationen“. „Wer Situationen konstruiert“, ist in der Zeitschrift Situationistische Internationale (1959) zu lesen, „wandelt, indem er durch seine Bewegung auf die äußere Natur wirkt und sie umwandelt, zugleich seine eigene Natur um.“13 Die Konstruktion von Situationen setzt beim Individuum und dessen Veränderung in der und durch die kollektive Aktion an, bezieht aber auch den potentiell transformierenden Wirkungseffekt der kollektiven Aktion auf die Umgebung (Passanten, Zuschauer, Beobachter, Publikum) ein. Die Verbindung von individueller und kollektiver Emanzipationsstrategie macht die Besonderheit und die Attraktivität der Konstruktion von Situationen aus.

Es ist ein Experimentieren mit Wahrnehmungsweisen, das Kennzeichen der künstlerischen Avantgarde, das die Situationische Internationale antreibt. Dies spiegelt sich auch in ihren drei Methoden wider, sich die Stadt anzueignen: „dérive“, Psychogeographie, „détournement“. Alle drei wirken zusammen, wenn es um die Verwirklichung des „unitären Urbanismus“ geht. Sie versuchen, revolutionäre Handlungsspielräume innerhalb der kapitalistischen Vergesellschaftungsformen auszuloten. Durch orientierungsloses Umherschweifen und zielloses Durchschreiten (dérive) der Stadt sollen ein „kritisches Bewusstsein des spielerischen Potentials urbaner Räume entwickelt“, der Möglichkeitssinn entfaltet und neue Wünsche geweckt werden.14 „La formule pour renverser le monde“, so Guy Debord, der Begründer der Situationistischen Internationale, „nous ne l’avons pas cherchée dans les livres, mais en errant.“15

Das Kartographieren des Umherschweifens – die Psychogeographie – überführt die passive Wahrnehmung in ein aktiv-analytisches Verfahren. Dérive und Psychogeographie ergänzen sich. Ihr Zusammenwirken verringert den Einfluss des Zufalls auf die Entdeckung von Handlungsspielräumen und bildet die Voraussetzung für produktive städtebauliche Veränderungsvorschläge bis zum „détournement“ der bestehenden Bauweise. Geschaffen werden soll eine neue Wirklichkeit. Constant stellt eine solche mit seinem utopischen antikapitalistischen Entwurf Ville Dérivée vor, einem work in progress, bekannt geworden unter dem Namen New Babylon. Die Stadtutopie entfaltet neue Stadtstrukturen und bezieht in die Konstruktion die Wünsche der Bewohner mit ein, die die Räume im Inneren selbst gestalten und permanent verändern können. Henri Lefebvre kommentiert: „[…] a New Babylon – a provocative name, since in the Protestant tradition Babylon is a figure of evil. New Babylon was to be the figure of good that took the name of the cursed city and transformed itself into the city of the future.“16

Lefebvre deckt damit zugleich eine weitere Dimension von „détournement“ auf. Die Situationisten setzen, der Maxime „Kritik muss in Aktion umschlagen“ folgend, „détournement“ auch zur Umkehrung der etablierten Beziehungen zwischen Begriffen ein, zur Verfremdung ihres Bedeutungsgehaltes. Begriffe werden entwendet, um sie subversiv mit neuem Bedeutungsgehalt aufzuladen und dergestalt in Texten „arbeiten“ zu lassen. Um die Entfremdung in den Städten zu bekämpfen, setzen die Situationisten das Mittel der Verfremdung ein. Sie spielen mit Worten, um Zeichen zu setzen und auf sprachlicher Ebene Gegen-Sinn zu schaffen.17 So sind in Paris im Mai 1968 Mauern voller Wandparolen zu finden, die die Handschrift der Situationisten tragen: „[…] Einige Kritzeleien auf den Mauern, in aller Eile eingeritzte Worte der Verweigerung bzw. verbotene Gesten […]. Wir wollen im bekannten Land, unter lebendigen Zeichen, die alltägliche Freunde sind, leben. Die Revolution wird auch die ewige Schaffung von Zeichen sein, die allen gehören.“18

In den USA setzen die Black Panthers mit ihrer Erfindung des „Graffito“ Zeichen einer neuen, gegen die etablierte Ordnung der Dinge gerichteten Ausdrucks- und Wahrnehmungsweise. Es ist die Jugend, an die die Situationistische Internationale appelliert, endlich die Zuschauerrolle zu verlassen, sich einzumischen in die Gesellschaft, in die Politik. Ihre Transformationsstrategie greift, als eine studentische New Left / Neue Linke sich ihrer bedient und in Protestaktionen zu überführen beginnt. Revolution wird wieder denkbar, aber anders als von Mitscherlich gedacht.


II. Homo ludens

Berlin, 18. Februar 1968: In rhythmischen Wellenbewegungen zu den Rufen „Ho-Ho-Ho-ChiMinh“ und „Wir sind eine kleine radikale Minderheit“ bewegen sich 15.000 Demonstranten in wellenförmiger Bewegung durch die Straßen von Berlin. Die Demonstration bildet den Abschluss des vom Sozialistischen Deutschen Studentenbund (SDS) in der TU Berlin organisierten Internationalen Vietnam-Kongresses, der Personen und Gruppen vernetzt, die über alle nationalen und ideologischen Differenzen hinweg eine Gemeinsamkeit haben: Worten des Protestes gegen den Krieg in Vietnam Taten folgen zu lassen, Aufklärung zu vermitteln durch Aktion und – wie es die amerikanischen Students for a Democratic Society fordern – „Protest in Widerstand“ zu überführen. Nach zwei Tagen endloser Debatten und Resolutionen bildet die Abschlussdemonstration den Moment, in dem der Soziologe Robin Blackburn erstmals den „Geist von 1968“ zu spüren glaubt – ein, wie er später urteilt, ‚inspirierendes, neues politisches Klima.“19 Auch Nikolaus Kuhnert, 29, der gerade sein Architekturstudium an der TU Berlin abgebrochen hat, ist unter den Demonstranten. Er marschiert und skandiert mit. Was in diesem Moment mit ihm passiert, wird ihm erst viel später klar. Nach langer Auseinandersetzung mit den Situationisten schreibt er in seiner Architektonischen Selbstbiographie, die als ARCH+ 237 im Jahre 2020 erschien, habe er begriffen, „warum ich demonstriere, nämlich um in Bewegung zu sein, um im Regelbruch, aber genauso im rhythmischen Rufen von ‚Ho-Ho-Ho-Chi-Minh‘ im Laufschritt mich selbst in Bewegung zu erfahren und dadurch als Subjekt der Politik zu begreifen“.20

Es ist nicht die erste Demonstration gegen den Krieg in Vietnam, an der Kuhnert im Februar 1968 teilnimmt. Bereits am 17. Dezember 1966 war er Teilnehmer der „Spaziergang-Demonstration“ auf dem Kurfürstendamm, bei der Demonstranten in Gruppen protestierten, sich jedoch, sobald die Polizei auftauchte, auflösten und in Individuen mit Weihnachtspaketen verwandelten, um sich an der nächsten Ecke erneut zum Protestzug zu formieren. Mit der „Spaziergang-Demonstration“ reagierte der Sozialistische Deutsche Studentenbund (SDS) auf einen äußerst harten Polizeieinsatz gegen eine Demonstration eine Woche zuvor, bei der eine kleine Gruppe, die Demonstrationsroute verlassend, auf dem Kurfürstendamm ein „Weihnachtshappening“ zu veranstalten versucht hatte. Die mobile, spielerisch mit dem Stadtraum umgehende Demonstrationsform war an der Aktionsstrategie der Provos orientiert, einer anarchistischen Gruppe, die, 1965 gegründet, sich auf Constant Anton Nieuwenhuys‘ Utopie des homo ludens berief.21 Kuhnert, der den Vortrag im SDS-Zentrum gehört hatte, machte mit, war aber, wie er schreibt, „doppelt anwesend: dabei und gleichzeitig beobachtete ich mich und die Situation“.22

Im Februar 1968 hat sich die Situation verändert. Es ist nicht mehr eine kleine Gruppe innerhalb des SDS, sondern es sind elf Studenten- und Jugendgruppen aus der ganzen Welt, die den Vietnam-Kongress und die anschließende Demonstration durchführen. Der Erfolg der Berliner Demonstration veranlasst den Oxforder Geschichtsstudenten Tariq Ali, der als Redakteur der gegenkulturellen Zeitschrift Black Dwarf und Repräsentant der britischen Vietnam Solidarity Campaign nach Berlin gereist ist, ein vergleichbares Zeichen auch in London zu setzen. Bereits in Berlin lädt er für den 17. März zu einer großen Protestkundgebung ein. Die Vertreter des Sozialistischen Deutschen Studentenbundes bedrängen ihn, in London durchzuführen, was in Berlin unterlassen worden ist, die Demonstration in eine begrenzte Regelverletzung zu überführen. Ali lehnt ab. Die Internationalisierung der Demonstration begrenze das Recht der nationalen Veranstalter nicht, die jeweils richtige Taktik zu bestimmen. Wären die Gespräche an diesem Tag aufgezeichnet worden, schreibt er in seiner Autobiographie, hätten sie gezeigt, dass die überwältigende Mehrheit mehr als nur den Sieg des Vietkong in Vietnam wollte. „Wir wollten eine neue Welt ohne Krieg, Unterdrückung und Ausbeutung der Arbeiterklasse, die auf Kameradschaft und Internationalismus gebaut war. Der Reichtum der Ersten Welt, wenn er richtig eingesetzt wird, könnte eine Hilfe für die Dritte Welt sein“. Mit anderen Worten: Eine Veränderung der Gesellschaft schien möglich: die Herbeiführung eines „Sozialismus, der dieser Bezeichnung gerecht“ wurde. „Das war es“, so Ali, „was Vietnam uns alle gelehrt hatte“.23

Als sich der Demonstrationszug am 17. März l968 dem Londoner Grosvenor Square nähert und plötzlich mit einem Aufgebot von Polizisten konfrontiert sieht, vermag Ali die Situation nicht mehr zu kontrollieren. Die Demonstranten „besetzen“ den Platz vor der amerikanischen Botschaft. Die Arme ineinander hakend, beginnen sie passiven Widerstand zu leisten, der jedoch angesichts der Umzingelung durch Polizeipferde sowie infolge der Prügel, welche die berittenen Polizisten wahllos austeilen, in eine gewaltsame Konfrontation umschlägt. Nach zweistündiger Auseinandersetzung gibt Ali das Zeichen zur Räumung des Platzes. Enttäuscht über diese Entscheidung, übersetzt einer der Demonstranten seine Unzufriedenheit in einen Song, den er Street Fighting Man nennt: Mick Jagger. Darin heißt es:


„Ev'rywhere I hear the sound of marching, charging feet, boy 
'Cause summer's here and the time is right 
For fighting in the street, boy 
But what can a poor boy do 
Except to sing for a rock 'n' roll band 
'Cause in sleepy London town 
There's just no place for a street fighting man 
No. 


Hey! Think the time is right for a palace revolution 
'Cause where I live the game to play is compromise solution 
Well, then what can a poor boy do 
Except to sing for a rock 'n' roll band 
'Cause in sleepy London town 
There's just no place for a street fighting man No.“24


Der Text ist weit entfernt davon, die Sinnkonstruktion, um die der Berliner Internationale Vietnam-Kongress sich bemüht hat, zu übermitteln, aber er vermittelt eine Haltung und eine Stimmung, die auch ohne Kenntnis der Resolutionen und Handlungsmaximen des Vietnamkongresses zum Protest inspirieren. Doch nicht nur das. Der Erfolg des Liedes in den Hitparaden fordert John Lennon heraus, ebenfalls den Zeitgeist einzufangen. Ende Mai 1968 studiert er mit den Beatles Revolution ein.


„You say you want a revolution 
Well, you know 
We all want to change the world 
You tell me that it's evolution 
Well, you know 
We all want to change the world.” 


Wo die Revolution hingehen und wie der Weg dorthin aussehen soll, ist Lennon nicht ganz klar – heißt es doch:


„But when you talk about destruction 
Don't you know that you can count me out.“

Und in einer anderen (nicht offiziellen) Version:


„But when you talk about destruction 
Don't you know that you can count me in.“25


Das Lied, das Lennons Übergang zum politischen Aktivisten einleitet, ist vor dem Hintergrund der Antivietnamproteste und der Protestbewegung des Mai 1968 in Frankreich entstanden, die ebenfalls am 17. März einen entscheidenden Anstoß erhielten. Denn an diesem Tag gingen dort im Rahmen einer Antivietnamkriegsdemonstration die Fensterscheiben der American Express Bank zu Bruch, eingeworfen von einem Studenten der trotzkistischen Gruppe Jeunesse Communiste Revolutionnaire (JCR), der am Kongress in Berlin teilgenommen hatte. Die Verhaftung des Studenten entfacht die Solidarisierung der anarchistischen, trotzkistischen und maoistischen Gruppen sowie der Enragés (der Wütenden), einer zur Situationistischen Internationale sich zählenden Studentengruppe, auf dem Campus von Nanterre, einer neuen Fakultät am Rande von Paris, und sie führt zur Formierung der Bewegung des 22. März, die sich wie die Enragés, der Sozialistische Deutsche Studentenbund und die amerikanischen Students for a Democratic Society zur weltweit agierenden New Left / Neuen Linken zählen. 


III. Geschichte ist machbar

Betrachtet man die 68er-Bewegungen, die – ihrem Selbstverständnis nach – neue linke Bewegungen waren, ging dem Mobilisierungsprozess in den Vereinigten Staaten, in der Bundesrepublik, in Frankreich oder in Italien jeweils die Formierung einer intellektuellen New Left, Neuen Linken, Nouvelle Gauche und Nouva Sinistra voraus. Was war neu an der Neuen Linken?

Die Neue Linke grenzt sich vom Reformismus der sozialdemokratischen / sozialistischen Parteien ebenso ab wie von der Perversion des Kommunismus im Stalinismus. Sie ist antikapitalistisch und antikommunistisch. Sie formiert sich in Diskussionszirkeln, die sich seit Ende der 1950er Jahre um Zeitschriften gruppieren: in Großbritannien um die New Left Review, in Frankreich um Arguments, Socialisme ou Barbarie, Internationale Situationniste, in Italien um Quaderni Rossi oder Quaderni Piacentini, in der Bundesrepublik um Das Argument, die neue kritik und das Kursbuch, um nur einige zu nennen. Die Zeitschriften tauschen Artikel aus und lassen dergestalt Begriffe, Hypothesen und Aktionsstrategien zirkulieren.26 Was ihre Initiatoren – unter ihnen Edward Thompson, Raymond Williams, Cornelius Castoriadis und Claude Lefort, Guy Debord und Henri Lefebvre, Edgar Morin und Ranerio Panzieri – in Bewegung setzen, sind Ideen.

Die intellektuellen Vordenker nehmen eine Revision des Marxismus vor.27 Sie akzentuieren, orientiert an Marx‘ Frühschriften, die Entfremdung, nicht die Ausbeutung des Menschen. Die Neue Linke lehnt – und darin liegt eine ihrer wesentlichen Innovationen – die „Strategie der zwei Schritte“ (Immanuel Wallerstein)28 in die „andere“ Gesellschaft ab, d.h. die Transformation der Gesellschaft über die Eroberung der politischen Macht (politische Revolution) und die Sozialisierung der Produktionsmittel (soziale Revolution). Veränderungen im kulturellen Bereich, so die Prämisse, müssen der sozialen und politischen Transformation vorausgehen, neue Kommunikations- und Lebensformen antizipatorisch und experimentell entfaltet werden – durch die Schaffung von neuen Kulturidealen und deren Umsetzung in Subkulturen sowie Erprobung als „Gegenmacht“ innerhalb der bestehenden Institutionen. 

Es geht der Neuen Linken nicht um Machteroberung, sondern Machtkontrolle, um den Abbau von Herrschaft und Hierarchien, die Demokratisierung von Lenkungs- und Entscheidungsinstitutionen. Antihierarchisch, antibürokratisch, antietatistisch orientiert, schreibt sie sich in die Tradition des Anarchismus ein. Die Modelle der alten marxistischen Linken, so ihre Devise, taugen nicht mehr. In den Berliner Gemeinplätzen, einer im Kursbuch veröffentlichten Sammlung von „Notizen“, „die keinem Einzelnen“ gehörten, sondern „auf den Plätzen dieser Stadt demonstriert wurden“, heißt es:

„Wenn es für sie (die westlichen Metropolen) eine revolutionäre Zukunft gibt, so wird diese Zukunft kaum Vorbilder in der Vergangenheit finden.“29

Aber in noch einem Punkt grenzt sich die Neue Linke von der alten Linken ab: Sie versteht sich als Bewegung, nicht Partei. Als Bewegung folgt sie der Strategie der direkten Aktion in all ihren Facetten. Und sie geht last but not least davon aus, dass nicht länger das Proletariat als Träger des sozialen Wandels angesehen werden kann, sondern neue Trägergruppen den Anstoß zur Transformation der Gesellschaft geben werden: die neue fachgeschulte Arbeiterklasse, die Befreiungsbewegungen der ‚Dritten Welt‘, gesellschaftliche Randgruppe, die kritische Intelligenz.

Die Entkoppelung des Emanzipationskampfes vom Proletariat verleiht der jungen Intelligenz ein Mandat, als „neues revolutionäres Subjekt“ in die sozialen Auseinandersetzungen einzugreifen, und, wie der Soziologe C. Wright Mills in seinem „Letter to the New Left“ schreibt, als Basis und Agentur einer sozialen Wandel herbeiführenden Bewegung zu fungieren.30 Studentische Trägergruppen, die sich zu Beginn der 1960er Jahren von ihren Mutterorganisationen der alten Linken getrennt haben oder von dieser ausgeschlossen worden sind, greifen die Ideen der intellektuellen Vordenker auf und übernehmen, um sich zu legitimieren, das ihnen zugeteilte Mandat. Es bekräftigt sie in der Vorstellung, „Geschichte machen“ zu können, die ein zentrales Element der Moderne ist. Peter Schneider pointiert in Macht und Wahn (2008) das Selbstverständnis und Lebensgefühl der Akteure. Es war, wie er schreibt,

„ein Hochgefühl, das in jenen Monaten wie ein berauschender Wind durch die Berliner Straßen fuhr. Damals schien alles möglich, besonders das Unmögliche – und wir, die von diesem Wind Getragenen, fühlten uns von der Geschichte selbst dazu berufen, eine andere Gesellschaft nach neuen Regeln aufzubauen.“31

Ein Angebot Peter Palitzsch‘, des Intendanten des Stuttgarter Theaters, als Dramaturg nach Stuttgart zu kommen, lehnt Schneider ab, um in Berlin die Anti-Springer-Kampagne zu organisieren. Hans Magnus Enzensberger hat ihm zu diesem Schritt geraten. „Das politische System der Bundesrepublik steht jenseits aller Reparatur“, hat dieser im Mai 1967 in Times Literary Supplement verkündet: „Man kann ihm zustimmen, oder man muss es durch ein neues ersetzen. Tertium non dabitur."32 Bleiben die Fragen: Was sollte an die Stelle des alten Systems treten? Wie konnte/sollte das Neue entstehen? Und welche Rolle nahm die ARCH+ in diesem Prozess des Wandels ein?


IV. Erwartungshorizonte und Strategien

Die Neue Linke setzt auf eine Politisierung von unten: auf eine Transformation der Gesellschaft durch Demokratisierung aller sozialen Teilbereiche, ausgehend von der Demokratisierung der Hochschulen; mit anderen Worten: auf die Überführung der politischen in eine soziale Demokratie, auf die Errichtung einer participatory democracy u.a. durch „Raumnahme“, d. h. Besetzung von Räumen oder Erschaffung von Freiräumen, um autonome Denk-, Handlungs- und Lebensbedingungen herzustellen. 

Die Gründung der ARCH+ 1968 und die Entwicklung der Zeitschrift bis in die späten 1970er Jahre hinein lassen sich unter dieser Perspektive lesen und deuten. Geht es doch denen, die die Zeitschrift gründen und gestalten, um eines: Architektur neu zu denken und das Verhältnis von Architektur und Gesellschaft neu zu justieren. Wie? Der Erwartungshorizont bleibt offen, symbolisch markiert durch: das + (sprich plus). Das erste Heft der Zeitschrift gibt keine Zielvorgabe, keine Leitideen, stellt keine Grundsätze der Redaktion vor. „Eine Revue, von der sich, noch ehe sie vorhanden ist, angeben ließe, wie sie es meint und was darin stehen wird, wäre überflüssig“, schreibt 1965 Hans Magnus Enzensberger in der „Ankündigung einer neuen Zeitschrift Kursbuch“. Denn: „Kursbücher geben keine Richtungen vor. Sie geben Verbindungen an, und sie gelten solange wie diese Verbindungen.“33 Die ARCH+ folgt ihm in beiden Grundsätzen. 

Erstens: Die Redaktion legt anstelle von Leitideen dem „Leser“ zwei Fragen vor: Die Fragen lauten: „1. Was umfasst nach Ihrer Meinung der Begriff Architektur? 2. Halten Sie Forschung in der Architektur für notwendig? Geben Sie bitte eine Begründung an.“ Im Vorfeld der ersten Ausgabe wurden als Leser acht Persönlichkeiten und Institutionen aus dem öffentlichen Leben ausgewählt: (Bau)Ingenieure und Baubeamte, Hochschullehrer (von der Technische Hochschule Stuttgart, der Hochschule für Gestaltung in Ulm, der Universität Hannover, Hochschule für bildende Künste Berlin), Architekten (darunter ein Bioarchitekt und der Chefarchitekt des Ostberliner Magistrats, Hermann Henselman) sowie ein Maler und Dichter des Expressionismus. Es kam wie erwartet. So heißt es in Heft 1: „Vielseitig, zweifellos, fielen die Erwiderungen aus, die um so mehr Gewicht erhielten, weil wir verzichtet hatten, der Umfrage eine These voranzustellen, deren Tendenz als zutreffend, veraltet oder abwegig hätte angesehen werden können.“34

Umstritten ist unter den Befragten u.a., ob Architektur Kunst oder Wissenschaft ist, ob Planung Wissenschaft ist und was in Zukunft zum Beruf des Architekten gehören muss. Wenn man bedenkt, dass die Gründer der Zeitschrift Studierende und Assistenten – darunter eine Frau, Aylâ Neusel, wissenschaftliche Assistentin am Lehrstuhl für Statik und Tragkonstruktionen – der Universität Stuttgart aus dem Umkreis von Max Bense35 sind, dann dokumentiert die Redaktion mit der Publikation der Antworten den Kampf um die Definition der Forschungsdisziplin Architektur sowie der Ausbildungsziele des Faches. Sie eröffnet eine Debatte, sie deckt Widersprüche auf, sie stellt zur Diskussion. sie fordert zur Diskussion heraus und markiert als Aufgabe der weiteren Hefte: den Inhalt von Architektur „anzureichern“.36 Unpolitisch, wie Ulf Meyer später urteilt,37 war das nicht. „Demokratie ist Diskussion“, lautete ein Schlagwort der 68er-Bewegung. Für die Trägergruppen der Bewegung ist, wie der Linguist Joachim Scharloth schreibt: „Diskutieren gleichbedeutend mit der Praktizierung von Demokratie. Zu diskutieren bedeutete, Kritik zu üben an der Meinung anderer. In Kritik und Gegenkritik sollte sich die Angemessenheit politischen Handelns erweisen.“38 „On verra. C’est dans la discussion que nous nous définirons“, antworten die Besetzer der Sorbonne.39 Das Politische wird vom Staat gelöst. Es wird realisiert im Austausch zwischen den Menschen, im Miteinander-Reden-und-Reflektieren.

Zweitens: Keine Richtungen anzugeben, sondern Verbindungen aufzuzeigen, ist die „Absicht“ des Kursbuchs. Und auch hierin, so kann man es lesen, folgt die ARCH+ dem Herausgeber Enzensberger. Die nachfolgenden Hefte geben Verbindungen an: zur Umweltforschung und Kybernetik, zur Wissenschaftstheorie und Semiotik, zur Systemtheorie, zu Biologie und Bauen, um nur einige zu nennen. Viele Verbindungen sind durch Max Bense40 geprägt, der 1959 zur Zielscheibe der Künstlergruppe SPUR wurde. Sie hat in München zu einer Ausstellungseröffnung in den Räumen des Berufsverbandes bildender Künstler einen Vortrag von Max Bense annonciert, um am Abend des Vortrages das Fernbleiben des Philosophen mittels Verlesung eines Briefes zu entschuldigen, in dem angeblich Bense Verpflichtungen in Mailand und Zürich als Grund für seine Absenz angibt. Vorgespielt wurde dem Publikum, das zahlreich erschienen war, eine Tonbandaufzeichnung, die aus Fragmenten von Texten Benses zusammengestellt war. Das Publikum verharrte auf seinen Plätzen und diskutierte das Gehörte. Nur wenige kritische Stimmen wurden in der Presse laut. Eine davon urteilte „Alles in allem: München war be-benst.“41 Die Künstlergruppe legitimierte sich mit der Aktion – die die unkritische Gesellschaft des Spektakels vorführte – für ihre Aufnahme in die Situationistische Internationale. Als Bense von dem Vortrag hörte, zu dem er niemals eingeladen worden war, reagierte mit Wut. Anders als Adorno, der ebenfalls zur Zielscheibe der Gruppe wurde, zog Bense, Kenner des Dadaismus, eine Klage gegen die Gruppe jedoch zurück. 

Der „Bense-Skandal“ liegt weit zurück, als das erste Heft der ARCH+ erscheint. Im dritten Heft schreibt Max Bense mit. Teile der SPUR-Gruppe sind mittlerweile von München nach Berlin gezogen. Dort stößt Nikolaus Kuhnert, der 1972 in die ARCH+-Redaktion eintreten wird, auf sie und ihre neuen Aktivisten: im Argument-Club, bei Vorträgen innerhalb des SDS-Zentrums, bei Besuchen in der Kommune 1 und auf der Spaziergang-Demonstration. Kuhnert hat nach der Demonstration gegen den Schah von Persien in Berlin am 2. Juni 1967 aufgehört, „als Architekt zu arbeiten, und war von da an nur noch politisch aktiv“.42 „In den neuen Formen des Protests, die auf Rollenwechsel und Regelbruch zielten, schien eine neue Kultur der Bewegung auf“, wie er schreibt, „[u]nd damit auch ein neues Subjekt der Bewegung, das sich gegen den Massenwahn des 20. Jahrhunderts richtete.“43 Als Sohn einer jüdischen Familie mütterlicherseits 1939 geboren, hat er das Ende des Kriegs mit seiner Mutter im Versteck überlebt, während sein Großvater nach Theresienstadt transportiert worden und dort gestorben ist. Früh war er sich bewusst, „dass auch das Leben meiner Eltern und meines eigenen seinen Endpunkt in Auschwitz finden sollten“.44 Mit der auch der Vergangenheit gegenüber „geschlossenen Gesellschaft“ West-Berlins konfrontiert, trat Nikolaus Kuhnert in den Argument-Club ein und wirkte an dem vom antiautoritären Flügel geleiteten Arbeitskreis „Formierte Gesellschaft“ mit. Die „Kultur der Unmittelbarkeit und des Regelbruchs“ beeindruckt ihn. Er steht damit nicht allein. Auch Peter Schneider findet über das „Überraschende“, „Theatralische“ der Demonstrationen den Weg zum SDS. War er bei der ersten Antivietnamkriegsdemonstration im Dezember 1966 noch bloßer Zuschauer am Kranzlereck gewesen, wirkte er bei der zweiten mit. Die Bewegung „hatte mich“, wie er später schreibt, „am Haken“.45

Organisierte Schneider nach dem 2. Juni das Anti-Springer-Tribunal, richtete Kuhnert sein Engagement auf die „Kritische Universität“ (KU), die nach dem Vorbild der Free Universities in Berlin im Wintersemester 1967/68 entsteht. Zu ihrer Gründung hatten Wolfgang Nitsch und die Mitautoren der Hochschuldenkschrift der SDS, Claus Offe und Ulrich K. Preuß,46 sowie der antiautoritäre Flügel des SDS aufgerufen. Unmittelbarer Auslöser war der Polizeiansatz am 2. Juni 1967, bei dem der Student Benno Ohnesorg von einem Polizisten erschossen worden war. Die Berliner „Kritische Universität“ zählt 33 Arbeitskreise – Kuhnert leitete einen von ihnen: „Architektur und Gesellschaft“.47 Grundlegend für den Arbeitskreis 20 wurde ein Text von Jürgen Habermas, „Verwissenschaftlichte Politik in demokratischer Gesellschaft“.48 Der Arbeitskreis versuchte – an den Habermas-Text anknüpfend – Bezüge zur Architektur herzustellen. „Wir betrachteten“, so Kuhnert im Rückblick, „Architektur als Planungsprozess, dessen Entscheidungsabläufe und Einbindungen der Akteure es zu rationalisieren galt“.49 Die KU-Gruppe schloss sich der Aktion 507 an – einer von Architekten, Studierenden und Assistenten gegründeten Gruppe –, um die Ausstellung Diagnose zum Bauen in West-Berlin zu organisieren. Im Zentrum der Kritik stand die Kahlschlagsanierung in Kreuzberg und im Wedding. In den Blick geriet aber auch die verdrängte Vergangenheit: der Abriss des Revolutionsdenkmals für Rosa Luxemburg und Karl Liebknecht, erbaut 1926 von Mies van der Rohe, abgerissen unter dem Nationalsozialismus. Verfasst wurde ein Aufruf zur Wiedererrichtung des Mahnmals aus „Verpflichtung gegenüber der Geschichte der Stadt“.50 Veröffentlicht wurde von Mitgliedern der KU-Gruppe aber auch ein Plan zur Reform der Architekturausbildung: die „Planerflugschrift“. Sie entwarf ein durch Habermas inspiriertes Modell wie Kuhnert schreibt,

„ein Modell eines selbstbestimmten Projektstudiums in interdisziplinärer Kooperation, welches beanspruchte, die alte Selbstherrlichkeit des Künstlerarchitekten abzulösen und durch einen abstrakten ‚Generator‘ zu ersetzen. Bauen und Planen sollten in einen gesellschaftlichen Zusammenhanggestellt werden, die gesellschaftlichen Folgen eines Entwurfs immer mitgedacht werden. Unsere Hoffnung war, diesen gesamtgesellschaftlichen Blick durch die Metawissenschaften der Kybernetik und Systemtheorie ins Studium integrieren zu können.“51

Es gelang, die „Planerflugschrift“, die sich vom „Künstlerarchitekten“ ebenso abgrenzte wie von der „technokratischen Architektur“,52 zur Grundlage für die Neuorganisation des Fachbereichs Planungs- und Gesellschaftswissenschaften an der TU-Berlin zu machen.53

Die Reflexionen zum „diskursiven Entwerfen“ und zur „kommunikativen Architektur“, die über die arbeitsgesellschaftliche Utopie der Arbeiterselbstverwaltung hinausweisen – bringen Kuhnert eine Einladung von Jürgen Habermas nach Starnberg an das Max-Plack-Institut zur Erforschung der Lebensbedingungen der wissenschaftlich-technischen Welt ein. 1970 schließt er sein Studium mit dem Diplom ab. 1972 wechselt er nach Aachen, um als Assistent im „Assistentenpool“, einem lehrstuhlunabhängigen Gremium, die Architekturausbildung der RWTH zu reformieren. Er sieht in der Lehre die Chance, seinen Zielen treu zu bleiben, die er mit der politischen Entwicklung eingeschlagen hat. Als erstes Seminar kündigt er „Ästhetische Oppositionsbewegungen und soziale Reformbewegungen“ an.54 Die ARCH+-Redaktion, in die er zeitgleich eintritt, verwandelt den Untertitel der Zeitschrift in „Studienhefte für Planungspraxis und Planungstheorie“.

Fasst man zusammen, lässt sich konstatieren, dass die ARCH+, vor dem Hintergrund des Zeitgeistes, dass „Geschichte machbar“ ist und Probleme durch Handeln gelöst werden können, zwei Anstöße der Transformationsstrategie der Neuen Linken in das Feld der Architektur transferierte: das Projekt der Gegenmacht durch Gegenöffentlichkeit / alternative Öffentlichkeit sowie Impulse einer Gegeninstitution. Gegenöffentlichkeit und Gegeninstitution wollen nicht nur Opposition sein. Sie fungieren als autonome Räume für die experimentelle Erprobung alternativer Normen, Werte und Beziehungsstrukturen. René Lourau attestiert ihnen daher eine „produktive Negativität“.55 Gegenkulturelle Räume entstehen „durch gegen institutionalisierte (An)Ordnungen gerichtete(s) Handeln“. Sie gehen aus „widerständigem Handeln“ hervor.56 Von langer Dauer sind sie häufig nicht. Sie erlöschen oftmals mit den Experimenten, die sie hervorgebracht haben. Die ARCH+ ist von einem im Universitätsverlag gedruckten alternativen Sprachrohr der jungen architektonischen Intelligenz, das zu Beginn einer gebundenen Flugblattsammlung gleicht, zur führenden Architekturzeitschrift aufgestiegen. Anders als das Kursbuch ist die Zeitschrift kontinuierlich, ohne zeitweilige Unterbrechungen erschienen. Konfliktlos vollzog sich indes die Publikation nicht. Trugen die Redakteurinnen und Redakteure doch die Spannungen und Konflikte, die in der 68er-Bewegung bestanden und sich in deren Zerfall verstärkten, gleichsam im Huckepack in die Redaktionssitzungen und die Hefte hinein. 

Die Kritische Universität zeigte exemplarisch von Anfang an die Spannungs- und Konfliktlinien auf. Gegründet mit dem Ziel, dem Wissenschaftsbetrieb eine Alternative entgegenzusetzen, sollte sie nicht nur das Forum einer in Praxis überführten Hochschulkritik und Studienreform sein, sondern die Studenten zugleich auf ihre Rolle und Funktion als „kritische Intelligenz“ in der Praxis zukünftiger Berufe vorbereiten. War der kleinste gemeinsame Nenner der am Projekt der Kritischen Universität Beteiligten die Demokratisierung der Hochschule in einer demokratischen Gesellschaft, konkurrierten unter diesem Dach rivalisierende Konzeptionen: Demokratisierung durch Mitbestimmung (Machtteilhabe) oder Selbstbestimmung (Aufbau von Gegenmacht). Die Hochschuldenkschrift des SDS hatte als Ziel einer Universitätsreform die Einführung einer Drittelparität in den Gremien der Hochschule genannt. Rudi Dutschke definierte die Kritische Universität als „Kampfinstrument zur Mobilisierung von Minderheiten“. Als Metapher umfasste seine Formel vom „langen Marsch durch die Institutionen“ beide Strategien. Er schloss die Erweiterung von Teilhabe- und Mitspracherechten an Entscheidungsprozessen innerhalb bestehender Institutionen ein, ging darin aber nicht auf. Der „lange Marsch“ implizierte vielmehr die Formierung von Gegenmacht außerhalb bestehender Institutionen. Dies eröffnete die Debatte über die Frage, wer, wie und wozu mobilisiert werden sollte. Im Prozess des Zerfalls der Bewegung manifestierten sich die Differenzen in vehementen Wortgefechten und Machtkämpfen um die Bestimmung des „revolutionären Subjekt“ und die Organisationsform. 


V. Deutungskämpfe

Permanente Mobilisierung ist schwierig. Soziale Bewegungen sind ständig von Auflösung und Zerfall bedroht. Organisation ist ein Mittel zur Stabilisierung des Bewegungszusammenhanges. Gestützt werden kann der Zusammenhang sozialer Bewegungen aber auch durch die Bildung von Subkulturen, die die Kommunikation innerhalb des Netzwerkes mobilisierter Gruppen verdichten. Doch ist die Wirkung all dieser Mittel ist zwiespältig. Sie können die Bewegung auch spalten und die Mobilisierung brechen. Die 68er-Bewegung zeigt im Prozess ihres Zerfalls exemplarisch das Dilemma sozialer Bewegungen auf. Sie zerfällt in der Auseinandersetzung um die Organisationsfrage in rivalisierende Gruppen, Parteien, Sekten und Subkulturen. Im Zerfallsprozess setzt sich die alte Linke gegenüber der Neuen Linken durch. Nicht zuletzt der französische Mai 1968 trug zur Renaissance neuer, an der Transformationsstrategie der alten Linken orientierter Gruppen bei. Brachte er doch auf die historische Bühne einen kollektiven Akteur zurück, der längst tot geglaubt war: das Proletariat. 

Stellvertretend für die vielen Theorie- und Strategiedebatten, die nach der Auflösung der Mai-Bewegung in Frankreich und der Außerparlamentarischen Opposition in der Bundesrepublik – beider Demobilisierung begann Ende Mai – geführt worden sind, sei ein Streitgespräch in Erinnerung gerufen zur Re-Lektüre nach 50 Jahren, das im Januar 1971 im Spiegel ausgetragen wurde zwischen Hans Magnus Enzensberger und Herbert Marcuse, nicht zuletzt weil sich ihr Streit um „das Proletariat als schwindende Klasse“ insbesondere auch um die Architekten dreht: „die lohnabhängigen Architekten,“ die in der ARCH+ zu Beginn der 1970er Jahre eine zentrale Rolle spielten.57


„ENZENSBERGER: Die Marxisten halten am Begriff der Diktatur des Proletariats unbedingt fest. Glauben Sie, dass dieser Begriff in heutigen sozialistischen Bewegungen nicht mehr operativ sein kann? 
MARCUSE: Die Fabrikarbeiter sind nicht mehr die Majorität der Bevölkerung ... und da wir heute schon wissen, dass die White-collar-Arbeiter auch in Zukunft immer mehr zunehmen werden auf Kosten der Zahl der Blue-collar-Arbeiter, dass sich das Verhältnis von Hand- und Kopfarbeitern immer weiter verschieben wird und die Kopfarbeiter mehr und mehr zur menschlichen Basis des Produktionsprozesses werden, sollten wir mit dem Begriff des Proletariats und dem der Diktatur des Proletariats etwas vorsichtiger umgehen.. 
ENZENSBERGER: Das hieße aber doch nur, dass auch die Schichten, die man früher dem Kleinbürgertum zugezählt hat, rapide proletarisiert werden. 
MARCUSE: Sie werden nicht proletarisiert. Die unmittelbare physische, materielle Verelendung lässt sich vom Begriff des Proletariats nicht abspalten. 
ENZENSBERGER: Darf ich ein Beispiel geben? In Deutschland gibt es heute bereits große Architekturbüros, wo Leute, die sich während ihres Studiums noch eingebildet haben, dass sie später ‚freiberuflich schaffen‘, Häuser entwerfen, also eine schöpferische Arbeit leisten würden, Leute, die also im Grunde eine bürgerliche Berufsperspektive hatten, sich in einem industrialisierten Großbetrieb wiederfinden, an einem Zeichentisch neben Dutzenden von anderen jungen Architekten. Dabei müssen sie feststellen, dass sie tagaus, tagein ein Baudetail zu liefern haben. Ein solcher Architekt zeichnet zum Beispiel immerzu Fenster. Das ist ein gutes Beispiel für Proletarisierung. 
MARCUSE: Wo findet sich derselbe Mann, wenn er abends nach Hause kommt? Findet er sich in einer dreckigen Ein- oder Zwei-Zimmer-Wohnung ohne adäquate sanitäre Einrichtungen? Hat er kein Automobil? Besitzt er die kleinen oder nicht so kleinen sogenannten Luxusgüter des Spätkapitalismus, oder besitzt er sie nicht? 
ENZENSBERGER: Natürlich hat er sie. 
MARCUSE: Dann ist es ein Hohn auf den wirklichen Proletarier, diese Arbeiterschichten als Proletarier zu bezeichnen.
ENZENSBERGER: Wenn Sie wollen, suspendieren wir für einen Augenblick die traditionelle Antwort. Dadurch wird aber die Frage nicht erledigt: Wer soll die Führung übernehmen? 
MARCUSE: Ich muss Ihnen offen sagen, dass diese Fragestellung mir als Marxist irgendwie unsympathisch ist. Schließlich, gibt es doch nirgendwo einen Gott oder ein Schicksal oder ein Buch, das nun zu bestimmen hätte, wer die Führung übernehmen soll. Das ist doch verdinglichter Marxismus. Welche der verschiedenen Tendenzen, Gruppen und Klassenschichten sich In der Zukunft radikalisieren wird, auch im Bewusstsein, und wer damit als Avantgarde auftritt, das kann man nicht bestimmen, indem man einfach vorgegebene Kategorien, wie ‚Studenten‘, ‚neue Arbeiterklasse‘, ‚Arbeiterklasse‘ ohne Reflexion übernimmt. Das wird in den verschiedenen Ländern je nach dem Entwicklungsstand des Kapitalismus ganz verschieden aussehen. 
ENZENSBERGER: Ich beharre mit Absicht auf meiner Frage, denn diese Frage stellt sich jetzt in einer Phase der Selbstkritik für die sozialistische Bewegung in der Bundesrepublik in aller Schärfe. Wir versuchen, aus den Fehlern der Studentenbewegung, aus ihrem Scheitern zu lernen. Es hat sich herausgestellt, dass die Organisationsformen, die sie spontan gefunden hatten, offenbar nicht weitertragen. Die gegenwärtige Phase ist gekennzeichnet durch die abstrakte Negation des Vorangegangenen. Die antiautoritäre Seite der Bewegung wird, oft auf mechanische Weise, total negiert. Die heutige Praxis stützt sich überwiegend auf die Betriebsarbeit, auf Kaderbildung und Agitation. Sie führt zu einer Rückkehr zu leninistischen Konzepten, auch in der Organisationsfrage. Damit steht der Aufbau einer Kommunistischen Partei, nach den Prinzipien des "demokratischen Zentralismus", wieder auf der Tagesordnung -- so, wie es ebenfalls im Buch steht. Sind Sie der Meinung, dass dies immer noch eine adäquate Organisationsform sein kann? Und wenn nicht, welche Alternativen sehen Sie?
[…]
MARCUSE: Sie sind ausgegangen von den Unzulänglichkeiten und den Fehlern der Studentenbewegung. Wie sehen diese Fehler aus? 
ENZENSBERGER: Die Studentenbewegung ist natürlich von der Klassenlage der Beteiligten bestimmt gewesen, von ihren Interessen und von ihrem Bewusstsein. In der Bundesrepublik rekrutiert sich die Universitäts-Population im wesentlichen aus dem Bürgertum. 
MARCUSE: Entschuldigen Sie, das ist bereits Vulgär-Marxismus. Dass eine Bewegung ausgeht von der subjektiven Bewusstseinslage ... 
ENZENSBERGER: ... auch von einer ganz bestimmten materiellen Lage! Die Arbeiterklasse ist an den westdeutschen Universitäten notorisch unterrepräsentiert ... 
MARCUSE: ... das heißt noch lange nicht, dass sie diese subjektive Bewusstseinslage nicht transzendieren und allgemeine gesellschaftliche Verhältnisse sehen und artikulieren kann. Dass jemand aus dem Bürgertum kommt, ist scheißegal. Marx und Engels sind auch aus dem Bürgertum gekommen. 
ENZENSBERGER: Was ich treffe, ist aber keine individuelle Feststellung, sondern ich spreche vom Klassencharakter einer ganzen Bewegung, der sich objektiv bestimmen lässt. Die Arbeiterklasse ist an den westdeutschen Universitäten mit sechs bis acht Prozent vertreten. Das ist doch eine Tatsache. 
MARCUSE: Aber wer sagt Ihnen denn, dass ein lieber Gott und ein gutes Schicksal sich als Hort der Wahrheit die Arbeiterklasse ausgesucht hat? Das ist doch reiner Fetischismus. […] 
ENZENSBERGER: Muss eine kommunistische Organisation nicht Zellen bilden in allen gesellschaftlichen Institutionen, deren wichtigste die Fabrik ist und bleibt? 
MARCUSE: Selbstverständlich muss man in die Fabriken gehen und besonders mit den jungen Arbeitern politisch arbeiten. […] Aber genauso gut muss man mit andern, mit den Hausfrauen, mit den Intellektuellen, mit den Technikern reden. 
ENZENSBERGER: Die Tradition der Arbeiterbewegung scheint aber zu zeigen, dass man die Leute in ihrem Produktionsverhältnis organisieren muss, nicht als Privatleute, die zu Hause, so wie die Bibelforscher, irgendwelche Ansichten und Interessen hegen ... Ich sehe zum Beispiel nicht, wie man die Hausfrauen, als Hausfrauen, organisieren könnte. 
MARCUSE: Das sehen Sie nicht? Sie sehen nicht, wie man die amerikanischen Hausfrauen organisieren kann, um gegen den Vietnam-Krieg zu protestieren, Streiks zu unterstützen, Boykotte durchzusetzen? 
ENZENSBERGER: Kampagnen dieser Art sind möglich, aber eine kommunistische Kampforganisation kann auf diese Weise kaum aufgebaut werden. 
MARCUSE: Die kommunistische Kampforganisation ist eine Sache der Zukunft. Bis dahin ist eine entsetzlich schwierige und langweilige Aufklärungsarbeit zu leisten. Rudi Dutschke hat die bisher noch immer beste Formel dafür gefunden: Der lange Marsch durch die Institutionen ist nach wie vor notwendig.“58


Auch in der Redaktion der ARCH+ wurden zu Beginn der 1970er Jahre Streitgespräche dieser Art geführt. Nur wurden diese nicht immer, wie im vorgestellten Beispiel, mit dem Florett ausgetragen. Ulf Meyer, der die Geschichte untersucht hat, schreibt: „Das linke Selbstverständnis äußerte sich damals in endlosen ideologischen Grabenkämpfen. Weil die Redakteure Kämpfernaturen waren und darüber hinaus in unterschiedliche Fraktionen zersplittert, verloren sich die Redaktionskonferenzen häufig in Abstimmungsk[r]ämpfen.“59

Die Stuttgarter Gruppe zog sich angesichts des ewigen „Gerangels und der Blockaden“ 1972 aus der Redaktion zurück. Nach dem Auszug der „Macher“ formierte sich die Front neu: zwischen der Aachener und der Berliner Fraktion der Redaktion.


VI. (Re)Volution der Revolution

 Hans Magnus Enzensbergers Rückblick auf die 1970er Jahre fällt äußerst skeptisch aus. In Andenken schreibt er:


„Also was die siebziger Jahre betrifft, kann ich mich kurz fassen. Die Auskunft war immer besetzt. 
Die wundersame Brotvermehrung
Beschränkte sich auf Düsseldorf und Umgebung. 
[…] 
Widerstandslos, im Großen und Ganzen, haben sie sich selber verschluckt, die siebziger Jahre.“60


Der Moment, in dem Enzensberger vor dem Hintergrund des Generalstreiks in Frankreich den Eindruck hatte, dass „das System wankte“,61 und auch in der Bundesrepublik Deutschland dazu aufrief, endlich „französischer Zustände“ zu schaffen,62 scheint weit entfernt oder vergessen, die Revolutionshoffnung geplatzt, die Utopie lädiert. Für die ARCH+ gilt das nicht. Widerspruchs- und widerstandslos wurde hier nichts „verschluckt“. Galt als Signum der 1960er Jahre, „Entwurf und Architektur auf eine neue Basis zu stellen: den Entwurf auf den Diskurs, und die Architektur auf die unterschiedlichen Diskurse, die im Zeithorizont aufkamen,“63 so hält die Gruppe um Kuhnert auch mit Beginn der 1970er Jahre an dieser Herausforderung fest. 

Orientiert an Bertolt Brechts epischem Theater, will sie nicht nur neue bessere architektonische Werke konzipieren, sondern auch bessere Produktions- und Nutzungsbedingungen schaffen. Ein Mittel dazu werden die „Lehrbauspiele“. Nach dem Vorbild der Lehrstücke Brechts bauen Nikolaus Kuhnert, Peter Beck und Stephan Reiß-Schmidt (die beiden letzteren in der Stadtentwicklung in Berlin und München tätig) das Modell eines Straßenviertels (Rehmviertel) in Aachen nach, um dergestalt eine „Spielfläche“ zu haben für den Umbau unter spielerischer Beteiligung der Anwohnenden. Durchgeführt wird das Projekt jedoch mit einer Aachener Schulklasse, da die Anwohner sich geweigert haben, am Umbau mitzuwirken. Der Widerstand der Bewohner spitzt die Frage zu, wie dieser durch neue, andere Initiativen als mit „Blick auf klassische Organisationsformen wie Gewerkschaften“ gebrochen werden kann.64 Organisation durch Aktion oder Aktion durch Organisation – die alte Frage der sozialistischen Bewegung – kehrt zurück. Politische Partizipation über / durch Bewegungen oder intermediäre Organisation (Partei/Gewerkschaft)? Was tun? 

Die ARCH+ ist zu diesem Zeitpunkt „eine Zeitschrift von linken Intellektuellen für linke Intellektuelle“. Kuhnert und die Aachener Fraktion der Redaktion sehen sie in Gefahr: „Unserer Meinung nach drohte mit der zunehmenden Isolation der sozialistischen Linken in Deutschland auch der ARCH+ die Isolation.“65 Der Weg aus dieser Gefahrenzone hinaus – der Weg ins Freie – ist, analytisch gesprochen, die „kognitive Subversion“ (Bourdieu). „Politische Auseinandersetzung ist“, folgt man dem Soziologen Pierre Bourdieu, ein „kognitiver (praktischer und theoretischer) Kampf um die Macht, die legitime Sicht der sozialen Welt durchzusetzen.“ Das Politische beginnt, wo Wahrnehmungs- und Klassifikationsschemata in Frage gestellt und durch subversive und performative Diskurse Zeichen gesetzt werden, welche die Aufkündigung des stillschweigenden Einverständnisses mit den etablierten Strukturen signalisieren.66 Ein solches Zeichen setzen Kuhnert und die Aachener Fraktion der Redaktion 1977 mit der ARCH+ 34: „Strategien für Kreuzberg“.

Um die basisdemokratische Aneignung oder besser noch récupération der Stadt und des Wohnumfeldes, die sie verfechten, mit einer Theorie zu untermauern, entlehnen sie Texte der französischen Stadtsoziologie, darunter den Text „Die Produktion des städtischen Raums“ von Henri Lefebvre (aus dem Buch La production de l’espace, Paris 1974). Ein Tabubruch aus der Sicht der Berliner Fraktion der Redaktion, die in Lefebvre, der aus der Kommunistischen Partei ausgeschlossen worden ist, bevor er sich der intellektuellen Nouvelle Gauche angeschlossen hat, einen Häretiker sieht. Der Abdruck des Textes spitzt den Konflikt zwischen der Neuen Linken und der neuen alten Linken (in Gestalt der K-Gruppen) dramatisch zu und löst ihn zugleich, der Zerschlagung eines gordischen Knotens gleich: Die Berliner Fraktion zieht sich aus der Zeitschrift zurück. Die ARCH+ wird fortan von Aachen aus konzipiert: Marc Fester, Sabine Kraft und Nikolaus Kuhnert – die 1968 erstmals gemeinsam als Autorenkollektiv mit der Planerflugschrift hervorgetreten sind – sowie Günther Uhlig, Assistent an der RWTH Aachen mit den Schwerpunkten Architektur und Städtebau67 – übernehmen als Kollektiv / Ensemble die Herausgeberschaft.

„Die geistige Arbeit war unserer Ansicht nach von Bedeutung und nicht allein unter ihrer gesellschaftlichen Form wie das Angestelltenverhältnis subsumierbar“,68 kommentiert Kuhnert die Differenzen zu denen, die die ARCH+ verlassen. Lefebvres Werk bietet für diese „geistige Arbeit“ Orientierung an. Es bringt Widersprüche des Kapitalismus jenseits der Produktionssphäre zum Ausdruck, indem es den städtischen Raum – in Anlehnung an Guy Debord – als kapitalistisch „kolonialisiert“ problematisiert und Transformationsstrategien offeriert: das Recht auf die Stadt, verstanden als Recht auf Öffentlichkeit und öffentliche Form; die Aneignung der Stadt, verstanden nicht als Aneignung von Eigentum, sondern von Schaffung und Erprobung „urbanistischer Projekte“, die eine empirisch gestützte Phantasiewelt eröffnen. Die Architektur, so heißt es bei der Situationistischen Internationalen, „ist das einfache Mittel, Zeit und Raum INEINANDERZUFÜGEN, die Wirklichkeit zu MODELLIEREN, träumen zu lassen“.69

Indem die Redaktion den Lefebvre-Text lancierte und über ihn die Denkspur der Situationistischen Internationale aufnahm, entging sie dem Zerfall der K-Gruppen am Ende der 1970er Jahre und überstand auch den von den französischen neuen Philosophen (ehemalige Maoisten) verkündeten „Tod der Utopie“, verfolgte sie doch eine andere Revolutionskonzeption als diese. Sie knüpfte an die Revolutionskonzeption der Neuen Linken an und drehte die Wallerstein‘sche „Strategie der zwei Schritte“, an die die K-Gruppen wiederangeknüpft hatten, zurück. Sie schrieb sich, analytisch gesprochen, in die ästhetisch-künstlerische Tradition der Revolution der Wahrnehmung ein, von Herbert Marcuse auf dem Höhepunkt der Proteste in Frankreich und der Bundesrepublik mit den Worten umrissen: „Die heutigen Rebellen wollen neue Dinge in einer neuen Weise sehen, hören und fühlen; sie verbinden Befreiung mit dem Auflösen der gewöhnlichen und geregelten Art des Wahrnehmens.“ Gefolgert hatte er daraus: „[D]ie Revolution muss gleichzeitig eine Revolution der Wahrnehmung sein, welche den materiellen und geistigen Umbau der Gesellschaft begleitet und die neue Umwelt hervorbringt."70

Die ARCH+ arbeitet(e) daran.


Ingrid Gilcher-Holtey ist emeritierte Professorin für Allgemeine Geschichte unter besonderer Berücksichtigung der Zeitgeschichte an der Universität Bielefeld. Sie hat intensiv zu 1968 und zur Studentenbewegung gearbeitet.

1

Hans Magnus Enzensberger: „Erinnerungen an einen Tumult. Notizen zu einem Tagebuch“, in: Rudolf Sievers (Hrsg.): 1968. Eine Enzyklopädie, Frankfurt/Main: Suhrkamp 2004, S. 23.

2

Aus Gründen der Lesbarkeit des Textes verwende ich das traditionelle generische Maskulinum, das beide Geschlechter umfasst.

3

Alexander Mitscherlich: Die Unwirtlichkeit unserer Städte. Anstiftung zum Unfrieden, Frankfurt/Main: Suhrkamp 1965, S. 7.

4

Mitscherlich: Die Unwirtlichkeit unserer Städte, a. a. O., S. 41.

5

Mitscherlich: Die Unwirtlichkeit unserer Städte, a. a. O., S. 43.

6

Mitscherlich: Die Unwirtlichkeit unserer Städte, a. a. O., S. 69.

7

Mitscherlich: Die Unwirtlichkeit unserer Städte, a. a. O., S. 77.

8

Mitscherlich: Die Unwirtlichkeit unserer Städte, a. a. O., S. 9.

9

Mitscherlich: Die Unwirtlichkeit unserer Städte, a. a. O., S. 100.

10

Mitscherlich: Die Unwirtlichkeit unserer Städte, a. a. O., S. 7.

11

Constant: „Eine andere Stadt für ein anderes Leben“ (1959), in: Situationistische Internationale (Hrsg.): Situationistische Internationale 1958–1969. Gesammelte Ausgaben des Organs der Situationistischen Internationale, Bd. 1, Hamburg: MaD Verlag 1976, S. 112–115 (https://www.sirevue.de/eine-andere-stadt-für-ein-anderes-leben/; zuletzt abgerufen am 15. Juli 2021).

12

Raoul Vaneigem: „Anmerkungen gegen den Urbanismus“, in: Situationistische Internationale (Hrsg.): Situationistische Internationale 1958–1969, a.a.O., S. 240–245, hier S. 244f.

13

O. A.: „Der Sinn im Absterben der Kunst“ (1959), in: Situationistische Internationale (Hrsg.): Situationistische Internationale 1958–1969, a. a. O., S. 78–83, hier S. 82.

14

Max Jakob Orlich: Situationistische Internationale – Eintritt, Austritt, Ausschluss. Zur Dialektik interpersoneller Beziehungen und Theorieproduktion einer ästhetisch-politischen Avantgarde 1957–1972, Bielefeld: transkript 2011, S. 139.

15

Zit. nach Orlich: Situationistische Internationale, a. a. O., S. 140.

16

Zit. nach Kristin Ross: „Henri Lefèbvre on Situationist Internationale“ (http://www.notbored.org/lefebvre-interview.html; zuletzt abgerufen am 15. Juli 2021).

17

Orlich: Situationistische Internationale, a. a. O., S. 150.

18

Zit. nach Raoul Vaneigem: „Anmerkungen gegen den Urbanismus“ (https://www.si-revue.de/anmerkungen-gegen-den-urbanismus/; zuletzt abgerufen am 15. Juli 2021).

19

Ronald Fraser: 1968. A Student Generation in Revolt. An international Oral History, New York: Patheon Books, S. 180.

20

Nikolaus Kuhnert in ARCH+ 237: „Nikolaus Kuhnert: Eine architektonische Selbstbiographie“, 2019, S. 37.

21

Constant: Spielen oder Töten. Der Aufstand des Homo Ludens, Bergisch Gladbach: Lübbe, 1971; Originalausgabe (ders.): Opstand van de Homo Ludens, Hilversum: Uitgeverij Paul Brand, 1964. – Vgl. auch Julia Schmidt: „Die Stadt als Spielplatz“ (https://www.schirn.de/magazin/kontext/ulay/ulay_provos_amsterdam/; zuletzt abgerufen am 15. Juli 2021).

22

Kuhnert in ARCH+ 237, a. a. O., S. 35.

23

Tariq Ali: Street Fighting Years. Autobiographie eines 68ers, Köln: Neuer ISP-Verlag l998, S. l99f.

24

Vgl. zum Kontext Ingrid Gilcher-Holtey: 1968. Eine Zeitreise, Frankfurt/Main: Suhrkamp 2008, S. 27f.

25

Philip Norman: John Lennon. The Life, London: Harper Collins 2008, S. 555; John Lennon, Paul McCartney: „Revolution“, in: Milton Okun: The Complete Beatles, Vol. 2, 1966–1970, Greenwich/Connecticut: Cherry Lane Publishers 1981, S. 236–239.

26

Vgl. dazu Ingrid Gilcher-Holtey: Die 68er-Bewegung. Deutschland, Westeuropa, USA, München: C.H. Beck 2008, S. 11ff.; (dies.): ‚Die Phantasie an die Macht‘. Mai 68 in Frankreich, Frankfurt/Main: Suhrkamp 2001, S. 44–104.

27

Vgl. zur kognitiven Konstitution der Bewegung Gilcher-Holtey: ‚Die Phantasie an die Macht‘, a. a. O., S. 44-104; (dies.): Die 68er-Bewegung, a a. O., S. 11–24.

28

Immanuel Wallerstein: „New revolts against the system“, in: New Left Review Nr. 18, 2002, S. 29–40, hier S. 32.

29

Hans Magnus Enzensberger: „Berliner Gemeinplätze“, in: Kursbuch Nr. 11, 1968, S. 151–169, hier S. 169.

30

C. Wright Mills: „Letter to the New Left“, in: New Left Review Nr. 5, 1969, S. 18–23.

31

Peter Schneider: Rebellion und Wahn. Mein ’68, Köln: Kiepenheuer & Witsch 2008, S. 133.

32

Hans Magnus Enzensberger: „Klare Entscheidungen und trübe Aussichten“ (1967), in: Joachim Schickel (Hrsg.): Über Hans Magnus Enzensberger, Frankfurt/Main: Suhrkamp 1970, S. 225–232, hier S. 230.

33

Hans Magnus Enzensberger: „Ankündigung einer neuen Zeitschrift“, wiederabgedruckt in (ders.; Hrsg.): Kursbuch. Reprint der ersten 20 Ausgaben, Frankfurt/Main: Zweitausendeins 1980, S. 1–2, hier S. 1.

34

U(lrich) B(äte): „Architektur – Forschung“, in: ARCH+ Nr .1, 1968, S. 3.

35

Ulrich Bäte, Peter Dietze, Dieter Hezel, Wolfram Koblin, Peter Lammert, Gernot Minke, Aylâ Neusel, Stephan Waldraff.

36

B(äte): „Architektur – Forschung“, a. a. O., S. 3.

37

Ulf Meyer: „30 Jahre und kein bisschen weise“, in: ARCH+ Nr. 139/140, 1998, S. 148–155, hier S. 148.

38

Joachim Scharloth: 1968. Eine Kommunikationsgeschichte, München: Fink 2011, S. 211.

39

Le Figaro, 15. Mai 1968, S. 5.

40

Von 1950 bis 1967 außerordentlicher Professor an der Technischen Universität Stuttgart, ab 1967 Professor für Philosophie und Wissenschaftstheorie an der Universität Stuttgart.

41

Vgl. O. A.: „Flusslandschaft 1959. Kunst und Kultur“ (http://protest-muenchen.sub-bavaria.de/artikel/208a; zuletzt abgerufen am 15. Juli 2021).

42

Kuhnert in ARCH+ Nr. 237, a. a. O., S. 33.

43

Ebd.

44

Kuhnert in ARCH+ Nr. 237, a. a. O., S. 24.

45

Schneider: Rebellion und Wahn, a. a. O., S. 105.

46

Wolfgang Nitsch, Uta Gerhardt, Claus Offe, Ulrich K. Preuß: Hochschule in der Demokratie. Mit einem Vorwort von Jürgen Habermas, Berlin Luchterhand, 1965.

47

Dem AK gehörten u. a. Marc Fester, Sabine Kraft, Frieder Döpping, Eckhard Brunn an.

48

Jürgen Habermas: „Verwissenschaftlichte Politik in demokratischer Gesellschaft“, in: Helmut Krauch u.a. (Hrsg.): Forschungsplanung. Eine Studie über Ziele und Strukturen amerikanischer Forschungsinstitute, München, Wien: Oldenbourg 1966, S. 130–144.

49

Kuhnert in ARCH+ Nr. 237, a. a. O., S. 38.

50

Kuhnert in ARCH+ Nr. 237, a. a. O., S. 40.

51

Kuhnert in ARCH+ Nr. 237, a. a. O., S. 39.

52

Vgl. den Auszug in: Nina Gribat, Philipp Misselwitz, Matthias Görlich (Hrsg.): Vergessenen Schulen. Architekturlehre zwischen Reform und Revolte um 1968, Leipzig: Spector Books 2017.

53

Kuhnert in ARCH+ Nr. 237, a. a. O., S. 40.

54

Kuhnert in ARCH+ Nr. 237, a. a. O., S. 47.

55

René Lourau: L’analyse institutionelle, Paris: Ed. de Minuit 1970.

56

Martina Löw: Raumsoziologie, Frankfurt/Main: Suhrkamp 2001, S. 185–186.

57

Meyer: „30 Jahre und kein bisschen weise“, a. a. O., S. 150.

58

Hans Magnus Enzensberger: „Das Proletariat ist eine schwindende Klasse. Herbert Marcuse und Hans Magnus Enzensberger über Revolution“, in: Der Spiegel, 11. Januar 1971 (https://www.spiegel.de/spiegel/print/d-43375245.html; zuletzt abgerufen am 15. Juli 2021).

59

Meyer: „30 Jahre und kein bisschen weise“, a. a. O., S. 149.

60

Hans Magnus Enzensberger: Gedichte. 1950–1985, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1990.

61

Hans Magnus Enzensberger: „’Sie hatten nie eine politische Forderung...’ Ein Gespräch über die Hintergründe der RAF“, in: Wolfgang Kraushaar (Hrsg.): Die RAF und der linke Terrorismus, Bd. 2., Hamburg: Hamburger Edition 2007, S. 1392–1409, hier S. 1404.

62

„Die Lehre ist klar: Bedenken sind nicht genug, Misstrauen ist nicht genug, Protest ist nicht genug. Unser Ziel muss sein: Schaffen wir endlich, auch in Deutschland, französische Zustände.“ Zit. in: O. A.: „Geschlossene Gesellschaft“, in: Der Spiegel, 3. Juni 1968, S. 21–24, hier S. 22 (https://www.spiegel.de/spiegel/print/d-46039692.html; zuletzt abgerufen am 15. Juli 2021).

63

Kuhnert in ARCH+ Nr. 237, a. a. O., S. 69.

64

Kuhnert in ARCH+ Nr. 237, a. a. O., S. 47–50.

65

Kuhnert in ARCH+ Nr. 237, a. a. O., S. 50.

66

Pierre Bourdieu: Sozialer Raum und „Klassen“. Zwei Vorlesungen, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1985, S. 7–46; hier S. 18f.; (ders.): Was heißt sprechen? Die Ökonomie des sprachlichen Tausches, Wien: Braumüller 1990, S. 131; vgl. auch Ingrid Gilcher-Holtey (Hrsg.): 1968 – Eine Wahrnehmungsrevolution. Horizont-Verschiebungen des Politischen in den 1960er und 1970er Jahren, München: Oldenbourg 2013; (dies.): A Revolution of Perception? Consequences and Echoes of 1968, New York/Oxford: Berghahn 2014.

67

Kuhnert in ARCH+ Nr. 237, a. a. O., S. 51.

68

Kuhnert in ARCH+ Nr. 237, a. a. O., S. 50.

69

Gilles Ivain: „Formular für einen neuen Urbanismus“ (1958), in: Situationistische Internationale (Hrsg.): Situationistische Internationale 1958–1969, a. a. O., S. 20–25, hier S. 21.

70

Herbert Marcuse: Versuch über die Befreiung, Frankfurt/Main: Suhrkamp 1969, hier zit. nach der Sonderausgabe 2008, S. 61.