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Abstract:
Der Ingenieur und Architekt Werner Sobek im Gespräch über sein experimentelles Wohnhaus R128, die Dringlichkeit des Nachhaltigkeitsdiskurses und den technologischen Rückstand des Bauwesens.
Das Gespräch fand am 16. Juli 2020 in Stuttgart statt im Rahmen des Forschungsprojekts "Innovationsgeschichte im Spiegel der Zeitschrift ARCH+" und erschien erstmals auf dieser Website im Juli 2021.
Redaktion:
Leo Herrmann, Sandra Oehy
© IGmA/BBSR
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Werner, sprechen wir über die ARCH+, sprechen wir über die Schnittmengen deiner Arbeit mit der ARCH+ und die wichtigste Schnittmenge ist sicherlich das Heft 157, das im Jahre 2001 erschien – die erste und bisher einzige Ausgabe der ARCH+ in dieser 50-jährigen Geschichte der ARCH+, die nur einem Gebäude gewidmet war. Wie kam es zu diesem Heft?
Es hat mich ja geehrt – nach wie vor auch –, dass dieses Gebäude, das ich schon an der Wende zu einem neuen Jahrtausend ganz bewusst als einen Marker für die Architektur des neuen Jahrtausends konzipiert habe, dass das insbesondere in der ARCH+ eine sehr fundierte Würdigung, natürlich auch teilweise in kontroverser Diskussion gefunden hat. Aber die Radikalität in der Transparenz auf der einen Seite, aber auch in der Schöpfung des Innenraums – die Tatsache, dass es keine Griffe mehr gibt, was ja von vielen Leuten schon als ganz furchtbar empfunden wurde, also Wittgensteins Griff oder Sobeks Sensor – hat eine Diskussion intensiviert, die mir gerade recht kam. Nämlich eine Diskussion über das, was ich die nicht-visuelle Architektur nenne, also die Architektur des Fühlens, des Riechens, der akustischen und der thermischen Effekte. Und R128 ist jetzt zwar ein extrem technisch aussehendes Gebäude mit ganz wichtigen, heute würde man sagen, Features an der Schwelle zu einem neuen Jahrtausend, wie Minimalgewicht, voll rezyklierbar, es hat keinen Schornstein, es ist quasi null-emissiv et cetera et cetera – aber das war für mich nur die Mechanik des Pianos, auf dem man hier spielt. Das eigentlich Wichtige für mich war die vollständige Verbindung zwischen Innen und Außen und die komplette Integration des Bewohners in die umgebende Natur.
Aber wie kam es zu diesem Heft? Hat die ARCH+ bei dir angerufen?
Ja, die haben bei mir angerufen, ja. Ich meine, das hat ja alsbald Wellen geschlagen, das Gebäude. Ich habe das hergestellt in einem Winterbauezelt. Das heißt, man hat von außen gar nichts gesehen und die Bauzeit war gerade mal zehn Wochen – ja, sie hätte noch viel schneller sein sollen, aber es gab dann Probleme mit der Gaslieferung, weil der Markt zu der Zeit überhitzt war. Und als man dann dieses Winterbauzelt innerhalb eines halben Tages weggenommen hatte und dann stand da dieser durchsichtige Glasquader, dann war das natürlich landauf, landab die große Diskussion.
In diesem Heft wird ja auch eine hochinteressante Kontextualisierung vorgenommen: Dieses Haus R128 wird gespiegelt im Wittgenstein-Haus. Das Haus eines Philosophen wird gespiegelt in dem Haus eines an Philosophie interessierten Ingenieurs und Architekten. Wie kam es zu dieser Kontextualisierung?
Die kam von der ARCH+. Die habe nicht ich herbeigeführt, muss ich ganz offen sagen.
Und fühltest du dich dabei wohl?
Ja, definitiv, weil sie auf einem guten akademischen oder intellektuellen Niveau geführt wurde. Es gab ja viele – es ist das meistfotografierte Haus der Neuzeit. Und der Fotograf, der das exklusiv fotografieren durfte, hat sehr, sehr viel Geld verdient mit den Rechten an den Fotos. Ja, klar, das war für ihn ein Glücksgriff. Da ist aber auch viel berichtet oder kommentiert worden auf der Basis von Halb- oder Unwissen – so nach dem Motto, ich habe zwei Dinge gehört und jetzt extrapoliere ich nach links und nach rechts. Und insofern war ich da sehr, sehr froh, dass ARCH+ das mit der üblichen Gründlichkeit, wofür sie eben steht und intellektuellen Seriosität durchgearbeitet hat – und dabei natürlich Aspekte stärker in den Vordergrund der Diskussion gerückt sind oder wurden, die ich zunächst einmal ich für mich gar nicht so wichtig gesehen habe, weil sie für mich schon selbstverständlich waren in meiner Arbeit. Also ich habe immer beispielsweise gesagt, der Begriff Handlauf ist vollkommen missinterpretiert, weil keiner liest darin, dass die Hand zu laufen hat. Das heißt, dass eine Hand auf einem Geländer ein hohes schmeichlerisches Gefühl und gleichzeitig das Gefühl des Sicherzupackens, um dann nicht umzufallen oder auszurutschen, gewährleisten muss. Ein heutiges Brückengeländer innenstädtisch hat keinen Handlauf. Da ist zwar etwas, was so heißt, aber es erfüllt diese Funktion nicht. Und handschmeichlerische Komponenten in einem Gebäude sind für mich eine Selbstverständlichkeit. Ich beobachte immer die Nutzer, wie sie dastehen und irgendwo dann nicht mehr die Hände wegnehmen können, weil es eine taktile Qualität ist – und die baue ich überall ein. Aber ARCH+ hat diese Dinge dann natürlich nochmal in den Vordergrund der Diskussion gerückt. Was mir sehr recht war.
Und was die ARCH+ gemacht hat, sie hat den Begriff des Handlaufes, des Handgebrauchtes der Hand gespiegelt im Sprachgebrauch. Die Sprache war sozusagen im Zentrum, wurde ins Zentrum gerückt, in das Zentrum des Diskurses um dein Haus gerückt. Sprache versus Hand. Man hat ja da sehr schnell dann auch die Assoziation, dass es um eine Art Kommandoarchitektur gehen könnte. Hattest du da etwas Sorgen, auf die Sprache reduziert zu werden?
Ne, gar nicht. Also die Sprachsteuerung des Hauses habe ich – wir sprechen vom Jahr 2000, als ein Touchscreen noch 4500 D-Mark kostete und vier Zentimeter dick war – zu dem Zeitpunkt habe ich das ganze Haus mit Touchscreens ausgestattet, um dort eine Steuerung machen zu können. Du bist im vierten Obergeschoss, machst dann die Fenster im ersten Geschoss auf oder zu oder je nachdem oder das Licht an oder so. Mir war das aus Gründen des Experiments, das ich ja immer wieder in meinen prototypischen Bauten mache, wichtig zu erlernen: Macht das Sinn? Man kann viel vordenken und dann eine Behauptung aufstellen, nach dem Motto macht Sinn, macht keinen Sinn. Wenn ich mir nicht sicher bin – und das bin ich in vielen Fällen nicht –, dann probiere ich es einfach aus. Meistens im Kleinen und still und heimlich und dann ist eben das Gedankliche und das Ergebnis des Experiments idealerweise koinzident und dann weiß ich, zukünftig mache ich es nur noch so. Bei der Sprachsteuerung gebe ich offen zu, habe das nach wenigen Wochen abgeschaltet, weil es mir albern erschien, mich irgendwo hinzustellen und dann mit einer Lampe zu sprechen – so, Licht sieben an. Das mag okay sein für jemanden, der das mag, aber für mich ist das nicht okay. Vor allen Dingen, die Technologie damals, die Software war noch nicht in der Lage, eine Sprachsteuerung so zu gestalten, dass sie Nebengeräusche entsprechend herausfiltert. Das heißt, man hat es dann auch mit Fehlfunktionen zu tun gehabt. Und dann dachte ich, ne, eigentlich brauche ich das nicht. Das rein über einen Touchscreen Berührende ist auch nicht als l'art pourt l'art, sondern es ist eine ein hoher Nutzungsvorteil: Wenn ich ganz unten bin und laufe vier Geschosse hoch und merke, Mensch, ich habe das Licht vergessen auszumachen, dann läuft der Normalbürger wieder vier Geschosse runter. Aber ich kann das eben mit einem kleinen Tipp an den Screen ausschalten. Diese Dinge sind lebenserleichternd und komfortsteigernd – und warum soll ich sie dann nicht haben? Und die Tatsache, dass ich keine Armaturen an den Wasserhähnen oder an den Toiletten habe, ist eine rein hygienische Überlegung gewesen, die auch in vielen anderen Orten sehr viel Sinn machen würde. Also warum soll ich es dann nicht machen?
Der Titel dieser ARCH+-Ausgabe lautet ja "Sobeks Sensor oder Wittgensteins Griff". Ich könnte mir vorstellen, dass manche Zeitgenossinnen und Zeitgenossen im Jahre 2001 dieses Skepsis vor einer Architektur der Berührungen vielleicht sogar leicht neurotisch empfanden. Aber wir sprechen jetzt heute mitten in der Corona-Pandemie – im Grunde ist hier doch eine durchaus prophetische Architektur angelegt. Würdest du dem zustimmen?
So sehe ich das schon auch. Also das Echo, daas das Haus ja bis heute hat – es gibt da heute noch Fernsehteams aus aller Welt, die kommen. Heute mehr aus einem dokumentarischen Grunde – wie ist es nach zwanzig Jahren. Das ist ja ziemlich genau 20 Jahre jetzt alt als eine neue Position des Hinterfragens und Beobachtens. Aber das positive Echo, das das gehabt hat – auch eine ganze Reihe von Entwicklungen –, das hat den Aufwand, den planerischen und den denkerischen, der dahintersteckte, schon wettgemacht. Und im Jahr 2000 – und vielerorts ist es ja noch heute so, dass Architektinnen und Architekten sagen, also je weniger Technik, desto besser und Sensoren, was soll das jetzt wieder. Ich habe da ein bisschen ein befreiteres Verhältnis dazu, auch weil wir in der interdisziplinären Arbeit, gerade auch hier am ILEK mit Kolleginnen und Kollegen aus Luft- und Raumfahrt, Maschinenbau, Textiltechnik, Biologie und anderen diese Begrifflichkeiten und die dahinterstehenden Möglichkeiten auf eine selbstverständliche Art und Weise kennengelernt haben und auch nutzen. Also für mich ist das kein Hightech – wenn ich ein Handy in die Hand nehme und weiß, da sind zweistellige Anzahl von Sensoren drin, ja, warum soll ich dann nicht einen Sensor an der Toilettentür haben. Ich sehe da – für mich war das gar nicht revolutionär. Andere haben gesagt, das ist ja hypertechnisch, das ist schon spacey, das ist, was weiß ich, zu weit, too much und irgendwie. Ich sehe das nicht so: Wer in dem Haus einmal war, der will immer drin sein.
Wir sprechen hier ja auch über ein innovatives Haus im besten Sinne des Wortes. Welche Innovationen, würdest du sagen, haben sich durch R128 womöglich durchgesetzt?
Ein Bewusstseinswandel – und das war das wichtigste. Das wollte ich auch damit erzielen. Ich wollte beileibe nicht, dass jetzt alle Häuser so sind wie dieses. Das war ja auch eine weitreichende Fehlinterpretation, dass viele Leute sagten, der Sobek fordert, dass wir jetzt alle im Glashaus wohnen. Das ist ja Unfug. Ich meine, da brauchen wir ja gar nicht weiter drüber diskutieren. Das Haus hat zwei verschiedene Ebenen, die mir wichtig waren: das Eine ist das Empfinden des Nutzers dieses Gebäudes, im Sinne von Leben mit dem Licht, mit der Lichtintensität, mit der Farbe, das Leben mit den Gerüchen außerhalb des Hauses auch, das Leben mit der umgebenden Natur, mit dem Wetter et cetera et cetera und die vielen anderen Aspekte wie unterschiedliche Wärmefelder, wärmere Bereiche, kühlere Bereiche, taktile Qualitäten, gewisse akustische Qualitäten. Das ist das, wo man sagt, wenn ich die Augen schließe und liege in meinem Bett, dann nehme ich das wahr – unheimlich wichtig für mich. Der zweite Aspekt – und das ist immer, ich sage, das ist die Klaviatur, die man aufbauen muss, damit man eine Melodie spielen kann. Und die Klaviatur ist das, was man als technisch oder technizistisch bezeichnet hat. Das ist der Versuch der Erfüllung meiner prinzipiellen, 1998 bereits formulierten Gedanken, die ich dann als – damals hat man noch viel Englisch gesprochen – "Triple Zero" genannt habe: Also das Gebäude darf keine Energie verbrauchen, die auf Verbrennungsprozessen basiert, das Gebäude darf keine Emissionen tätigen und das Gebäude darf keinen Abfall verursachen. Das bedeutet, wir müssen etwas Minimalgewichtiges machen, wir müssen es 100 Prozent recycelbar machen, wir ein Haus bauen ohne Schornstein. Und das war im Jahr 2000 eben woanders noch nicht zu sehen. R128 wiegt ungefähr 16 Prozent eines vergleichbar konventionell errichteten Hauses gleicher Größe – 16 Prozent. Und die Tatsache, dass es 100 Prozent recycelbar war, haben viele als unwichtig empfunden, weil sie gesagt haben, aa, warum, wir bauen doch für die Ewigkeit, also unsere Architektur ist doch so toll. Wenn ich mich so umschaue, ist das meiste nicht so lange da, wie man sich vielleicht wünschen würde. Und wenn wir sehen, dass wir ein massives Ressourcenproblem haben im Sinne von Baustoffschöpfung, um auf der einen Seite für die aktuell sogenannten – hässlicher Ausdruck – Entwicklungsländer sauberes Wasser, Zugang zur Bildung, Zugang zur Krankenversorgung, zur Gesundheitsversorgung et ceterea schaffen zu müssen und gleichzeitig für den Bevölkerungszuwachs von 2,6 Menschen netto pro Sekunde, dann habe ich eben im letzten Jahrtausend bereits gesagt: Das kann nie und nimmer funktionieren. Man hat mir das nicht geglaubt, aber ich habe dann bereits 1992 die wahrscheinlich weltweit ersten Vorlesungen über recyclinggerechte Architektur gehalten und habe daraus eben abgeleitet, wenn wir ein Mengenproblem haben, wenn wir ein Abfallproblem haben, dann müssen wir das Bauen auf andere Füße stellen. Und das war auch wichtig und dafür steht R128 auch: Es ist die 180-Grad-Wende weg vom Passivhaus zum Aktivhaus.
R128 ist also sowohl ein phänomenologische Ereignis als auch ein Programm, ein gebautes Programm. In dem Heft der ARCH+ fällt von dir ein Satz, in dem du im Grunde sagst: Ich habe wirklich ein ganz essenzielles Problem mit dem technologischen Rückstand des Bauwesens unserer Zeit. Wir sprechen jetzt 20 Jahre später über diesen Satz – hat sich etwas zum Positiven verändert?
Nur sehr bedingt, nur sehr bedingt. Das kann man ja besten mit den berühmten Diagrammen nochmals abgleichen und erkennen, die eben eine Produktivitätssteigerung, eine sonstige Steigerung in anderen Industriezweigen aufzeigen im Vergleich zum Bauweisen. Da ist nicht viel passiert. Das Bauweisen ist per se konservativ auf der einen Seite. Das hat eine gewisse Berechtigung, weil wir typischerweise mit einer Investition zu tun haben, die ein Bauherr nur einmal in seinem Leben verkraftet. Das heißt, da ist eine Sorgfalt und eine Verantwortung übernehmen durch den Planer, den Architekten, die Ingenieure angesagt. Alles andere ist nach meinem Dafürhalten moralisch nicht akzeptabel. Aber das andere ist natürlich, dass das Bauwesen auch eine sehr, sehr kleinteilige Architektur ist, mit einer sehr vielfältigen Zuliefererkette und -struktur. Und eine Baufirma aufzumachen ist ja relativ einfach: ja, dann leiht man sich die Maschinen aus irgendeinem Mietpark, stellt zwei Leute an und braucht ein Firmenschild. Man braucht ja keine weitere Qualifikation oder Approbation oder ähnliches und dann fängt man eben klein an. Aber das bedeutet, dass in den meisten Fällen die technologische und technische Basis gar nicht da ist, um etwas zu bauen, was meinen Anforderungen entspricht. Und wenn wir sagen, was sind denn jetzt meine Anforderungen, dann sage ich neben den – wir hatten es vorhin als die Sphäre um den Menschen bezeichnet, das lassen wir jetzt mal außen vor und wir nehmen die Sphäre des Technologischen, des Materiellen, des Massiven et cetera –, dann sind meine Anforderungen total einfach und völlig radikal: Ich sagem wir haben kein Energieproblem, sondern wir haben ein Emissionsproblem. Alles andere ist die Menschen in die Irre geführt. Diese ganze Diskussion mit Energieeffizienz ist eine Irreführung. Die Vorgehensweise, dass man sagt, man schreibt einzuhaltende Qualitäten bei den Bauteilen vor wie einen U-Wert, einen K-Wert, einen X-Wert, einen Y-Wert, ist der vollkommen falsche Weg. Es geht nur darum, dass man ein zu erreichendes Ziel vorschreibt. Und das einzige in diesem Bereich gesamtgesellschaftlich sinnvolle Ziel, das auch jeder sofort versteht, ist, es ist ab sofort verboten, dass die Gebäude klimaschädliche Abgase produzieren. Fertig. Wie man das erreicht, kann sich ja jeder dann selbst überlegen. Und das andere ist dann eben Rezyklierbarkeit, Materialminimalität et cetera. Und darüber rede ich jetzt seit 25 Jahren und so langsam, so langsam kommen diese Dinge jetzt in den Markt, finden Reflektion. Und das ist für mich natürlich insofern schön, als dass ich jede Menge Interviews wie heute in dem Sinn führen darf, um meine Ideen weiter zu verbreiten. Aber wir können unsere Ideen jetzt natürlich auch mehr und mehr bauen.
Wir sind schon fast bei Fridays vor Future, aber ich schlage vor, dass wir an dieser Stelle kurz zurückgehen, um später wieder zu diesem Thema zurückzukehren. Ich schlage vor, dass wir zurückgehen zum Zeitpunkt, als du anfingst, hier an der Universität Stuttgart zu studieren im Jahre 1974. Im Jahre 1974 gab es die ARCH+ bereits sechs Jahre – sie wurde 1968 gegründet. Die ARCH+ wurde in Stuttgart gegründet, entstand sehr stark in einem intellektuellen Kontext, geprägt von Planungstheorie, Kybernetik. Der Einfluss von Max Bense war sehr stark und irgendwann kamen zwei weitere Redaktionsstandorte in Aachen und Berlin dazu und zu dem Zeitpunkt, als du anfingst zu studieren hier in Stuttgart, gab es einen sehr starken Konflikt innerhalb der ARCH+-Redaktion, der üblicherweise als ein Konflikt beschrieben wird zwischen Aachen und Berlin, ein Konflikt angeblich zwischen einer marxistischen Ideologiekritik, die sehr stark um Berlin herum gruppiert wurde und einer anti-autoritären Offenheit gegenüber den sozialen Bewegungen ihrer Zeit, also zwei Spielarten von Linkssein. Hast du derlei wahrgenommen als Studierender, als Student im Jahre 1974/75?
Nein, auch wenn sich das jetzt unschick anhört oder unzeitgemäß, aber ich habe es nicht wahrgenommen, weil es nach meinem Dafürhalten auch nicht wahrnehmbar war. Also wir haben ja hier eine Technische Universität, heute ist sie eine Universität, aber sie war über viele, viele Dekaden eine Technische Hochschule und eine Technische Universität, sehr stark durch Ingenieurwissenschaften geprägt. Und meine jetzt eher am Rand stehenden, die Rolle des am Rand stehenden Beobachters, nicht des professionellen Beobachters, ist schon die, dass Ingenieure relativ wenig politisieren im täglichen Diskurs. Und ich habe ja beides studiert, Bauingenieurwesen und Architektur und es war im Architekturstudium nicht viel anders, muss man ganz offen sagen. Also ich war jemand, der ja als Abiturient 1972 noch in der Provinz protestiert hat. Dann hat man eine Demo gemacht, das war wahrscheinlich die erste Demo in meiner Heimatstadt, und ist auf Mülltonnen gestiegen und hat dafür, dass endlich etwas getan wird gegen die bereits erkennbare Umweltverschmutzung et cetera et cetera. Und dann kommt man an eine so renommierte Hochschule und es passiert diesbezüglich kaum was. Und in der Lehre wurden diese Begriffe auch nicht angesprochen. Die Lehre war – bis auf ganz wenige Ausnahmen, auf die wir vielleicht noch zu sprechen kommen – eher klassisch ausgerichtet in beiden Fakultäten, Ingenieure wie Architekten.
Ich schlage vor, dass wir an dieser Stelle nochmal versuchen, hier einen Blick auch aus den USA – den hast du ja sehr stark, diesen Blick aus den USA sehr stark auch auf Deutschland werfen können irgendwann. Ich glaube schon während deines Studiums, richtig? Oder kurz nach deinem Studium?
Einen längeren Aufenthalt hatte ich dann erst am Beginn unseres Jahrhunderts oder Jahrtausends, als ich dann Professor in Harvard war und hinterher der Mies-van-der-Rohe-Nachfolger in Chicago.
Aber als du jetzt vorhin deine ersten Protesterfahrungen in der schwäbischen Provinz beschrieben hast, waren wir ja schon fast bei dem Gründungsdatum der Grünen 1980. Die Ökologie war in der Luft. Gleichzeitig hast du sicherlich sehr stark auch das Wirken von Frei Otto hier wahrgenommen. Gab es für dich eine Art größeren politischen Kontext dieses Wirkens von Frei Otto oder war es vor allem eine politikneutrale, hochinteressante, innovative Technologie.
Ich war ja Hiwi hier. Ich bin glaube ich im zweiten Semester auf der Suche, das worüber er publiziert, es lernen zu können. Und als ich dann festgestellt habe, er hält gar keine Vorlesungen, er hält auch nur alle vier, fünf Jahre mal einen Vortrag hier, dachte ich mir, dieses Wissen nur durch Bücherlesen, die auch nicht alles darlegten diese Bücher, muss man auch sagen, sondern vieles, aber eben die Quinta Essenza nicht. Da bin ich hierher gegangen und habe gesagt, ich will das jetzt lernen. Das muss einen Weg geben. Und dann wurde hier Hilfsassistent und bin natürlich in diese Arbeiten hier hineingeboren worden. Jetzt, um auf die Frage zurückzukommen: Es war eine unpolitische Haltung hier im Institut seitens der Institutsleitung. Natürlich gab es ab und zu einen Assistenten oder ein paar Assistenten, die auf der Ebene des Politischen diskutiert haben, die Fragen wie beispielsweise Nato-Doppelbeschluss oder die Proteste in Mutlangen und ähnliches oder die Gründung der Grünen thematisiert haben. Aber das ist eher am Kaffeetisch diskutiert worden und es war nicht Bestandteil oder sogar Ursache für die Arbeit, die hier stattfand. In keinster Weise.
Interessant. Du warst dann auch wissenschaftlicher Mitarbeiter im SFB 64, "Weitgespannten Flächentragwerk". vielleicht kannst du ganz kurz skizzieren, um was es da ging und ob es hier – inwieweit dich die Arbeit an diesem SFB weiter geprägt hat.
Ja, der Sonderforschungsbereich 64, "Weitgespannte Flächentragwerke" – die Nummer 64 sagt's ja schon – war einer der erste, einer Grundlagenforschungsinstitutionen der Deutschen Forschungsgemeinschaft. Die heutigen Nummern sind bei 1244. Das ist der, den ich leite. Das war etwas, was im Kontext Olympische Spiele München zu sehen ist, als Gutbrod den deutschen Pavillon auf der Expo in Montreal gezeichnet hatte und den Wettbewerb gewann und dann nicht genau wusste, wie er es jetzt umsetzen soll, dann hat der Frei Otto geholt, dann wurde es umgesetzt und dann wusste man, wir können uns etwas getrauen. Und als die Jury für die Olympischen Spiele 1972, die Bauten der Spiele '72, vor diesem berühmten Modell stand mit den weißen Damenstrümpfen und so weiter, waren die natürlich der vollen Überzeugung, das ist Frei Otto und Frei Otto soll das jetzt gewinnen. Dann öffnete man den Umschlag und es war Günter Behnisch und keiner wusste, wer das ist. Dann kamen aber gleich die Schlaumeier, teilweise auch aus der Jury, und haben gesagt, das ist ja gar nicht baubar. Dann gab's aus Jurymitgliedern heraus Vorschläge, alles aus Holz zu machen, andere wollten das auch Spannbeton machen. Und glücklicherweise war der Bauherr sehr weise und widerstandsfähig und hat dann eben gesagt, jetzt sucht er sich mal den wahrscheinlich besten Ingenieur aus seiner Zeit, den Professor Leonhardt und beauftragt den damit, ihm zu sagen, dem Bauherren, ist das jetzt baubar oder nicht. Und Herr Leonhardt hat dann eine ganze Reihe späterer Koryphäen um sich geschart und aus diesem Dunstkreis entstand dieser Sonderforschungsbereich, der die wissenschaftlichen Grundlagen gelegt hat für das Entwerfen, das Berechnen, das Dimensionieren, aber auch für alle die Materialitäten und Materialien, die seit langem vergessen, wie Seile und Stahlguss und ähnliches jetzt wieder eingesetzt wurden. Und in diesem interdisziplinären Umfeld bin ich als wissenschaftlicher Mitarbeiter und Doktorand aufgewachsen. Und das war natürlich die Fortsetzung meines Studiums, weil ich habe gesagt, ich war mir nie – Eigentlich wollte ich ja Bühnenbild studieren, aber das war dann die Zeit, wo du als Bühnenbildner eigentlich mehr oder weniger in die Arbeitslosigkeit gefallen bist. Und da war ein gewisser provinzieller Pragmatismus da. Dann dachte ich, entweder Architektur oder Ingenieurwesen. Dann habe ich Bauingenieurwesen studiert, dann war mir aber nach sechs Wochen klar, das kann ja gar nicht sein, weil da wurde immer nur analysiert und analysiert. Dann, als ich mich mal getraut habe, die Frage zu stellen – so als Frischling im Hörsaal –, aber was wir analysieren, macht doch eigentlich wenig Sinn. Dann wurde gesagt, ja, das machen die Architekten und die machen manchmal Dinge, die nicht sinnvoll sind, aber die Aufgabe des Ingenieurs ist es, das quasi zum Stehen zu bringen. Da habe ich mir gedacht, das mache ich mit Sicherheit nicht. Dann bin ich in die Architekturfakultät gegangen, habe mir das eine Zeitlang angehört. Dann war mir klar, dass sehr, sehr viele Dinge, die ich als naturwissenschaftliche und ingenieurwissenschaftliche Begründung für mich einfordere, dort nicht Gegenstand des Diskurses waren. Und dann dachte ich, da mache ich beides. Dann hab ich einen der von mir geschätzten Architekturprofessoren irgendwann mal gefragt, warum arbeiten wir nur mit Ziegeln, mit Stahl und Beton und warum arbeiten wir wenig mit Aluminium und Kohlefaser und diesem und jenem. Dann sagt er, das sind nicht die Ingredienzien der Architektur unserer Zeit. Dann dachte ich Okay, das ist es jetzt auch nicht. Und dann habe ich gedacht, wo kann ich jetzt lernen, wie man mit Kohlefaser, Titan und anderem arbeitet. Und ich habe dann Vorlesungen über Flugzeugbau besucht, über Textiltechnik und da warst du ja ein hochwillkommener Exot. Wenn der Professor für Textiltechnik gesagt hat, mit seinen fünf Maschinenbaustudenten, wer sind denn sie, ich bin jemand, aus dem und dem Bereich – das ist ja super! Und dann war ich auf einmal der permanente Gesprächspartner. Und so habe ich bis hin zu Karosseriedesign das gemacht, was ich für sinnvoll erachtete. Und das war stets interdisziplinär. Und es war stets in diesem Spagat zwischen einer extrem wissenschaftlichen Präzision des Denkens und des Handelns und auf der anderen Seite dieses extrem auf den Mensch fokussierte und den Menschen einbettende Moment. Und das war mein Leben seither. Und der SFB hat mir diese Chance gegeben, das wissenschaftlich zu vertiefen.
Kommen wir an dieser Stelle zu einem zweiten SFB, der sehr stark hier mit diesem Hause verbunden ist, aber nicht nur mit diesem Hause verbunden ist, sondern auch mit der ARCH+ verbunden ist: Die ARCH+ hat mit der Ausgabe 121, die im März 1994 erschien, ein ganzes Heft diesem SFB 230 gewidmet. Der Titel lautete "Natürliche Konstruktionen". Wie hast du diesen SFB wahrgenommen?
Kritischer, kritischer. Weil ich war da schon woanders, wobei das jetzt nicht eine Herabwürdigung der teilweise extrem guten Leistungen sein soll, die dort entstanden sind, sondern vielleicht das eher in meiner subjektiven Wahrnehmung nach außen tretende Bild. Also es ist ein bisschen schwierig, wenn man über Bionik und natürliche Konstruktionen und ähnliches spricht, weil ganz vordergründig sagen viele, die Natur optimiert immer und wenn man das so macht wie die Natur, dann ist man quasi optimal. Das ist natürlich der reine Unfug! Da braucht man sich nur einen menschlichen Oberschenkelknochen anschauen: Der hat mit einer Optimalität im Sinne einer tragenden Struktur, die ich jeden Tag hin und her bewegen muss, kilometerweit, überhaupt nichts zu tun. Also er ist aus anderen Gründen so. Und wäre ein Pfau eine Optimalstruktur, hätte er vielleicht auch kein so großes Rad, sondern würde diesen Effekt in seinem Balzverhalten effektiver herbeiführen. Aber das ist doch so und so ist es dann halt. Also man darf da nichts hineinmystifizieren. Und also beispielsweise der von mir weg seinem grandiosen Raumgefühl geschätzte Calatrava: Wenn man in so eine Calatrava-Ausstellung geht mit Brücken et cetera und schleicht sich dann so an ein paar schwarz gekleidete Kollegen hinten ran und ist ganz still, dann hört man die Kommentierungen, dass das alles reine Biologie und natürliche Konstruktionen und deshalb optimal sei. Also Calatrava-Bauwerke sind mit Sicherheit eines – sie sind nämlich tragstrukturell nicht optimal, sondern es ist geradezu ein eine Hochzeit der Materialverschwendung. Also da gibt es viel, viel Klärungsbedarf. Dann die Dinge – da gibt's noch so ein paar andere mystische Wörter wie Selbstorganisation. Ja, okay, das war alles schon lange da. Das ist jetzt dort vielleicht ein bisschen in das Entwickeln von Wegebeziehungen oder anderen Beziehungen hineingebracht worden, dass man sagt, hochkomplizierte Zusammenhänge kann man einfach nicht mehr im traditionellen Sinn mit Zirkel und Lineal planen, sondern da muss man Selbstorganisationsprinzipien einführen. Letztlich sind solche Selbstorganisationsprinzipien von dem von mir – allgemein gar nicht – gelobten, weil unbekannten, wenig zitierten Ingo Rechenberg, Professor in Berlin, schon Mitte der sechziger Jahre entwickelt worden: Nämlich evolutionäre Algorithmen, die auf der Basis von einem synthetischen Erzeugen von Varietät und dann wieder Einschränken und wieder Variieren und wieder Einschränken, also im Grunde genommen biologische, evolutionssstrategische Ansätze, die mathematisch-numerische Grundlage gelegt haben für vieles, was hinterher passierte. Nur ist Rechenberg nie erwähnt worden in unseren Kreisen hier, sondern man hat diese Sprüchlein eher ans eigene Revers geheftet – ungerechterweise. Dann gab es natürlich sehr, sehr wichtige Dinge, die in dem Bereich – Werner Nachtigall, Biologie, Bionik und sowas – dort hineingespült wurden, aber immer ein bisschen mit der Gefahr, was machen wir jetzt. Kupfern wir die Natur ab oder erklären wir den Biologen, wie das Schneckenhaus statisch funktioniert? Und es ist für mich beides ein wertvoller Ansatz. Aber ich konnte für mich selber von meiner eigenen Arbeit daraus nie etwas ziehen, was mich dazu getrieben hätte, jetzt unbedingt in dem Bereich zu arbeiten.
Die ARCH+ versuchte sicherlich etwas mit diesem SFB 230 mit dem Titel "Natürliche Konstruktionen" anzufangen. Nicht nur, weil sie darüber ein Heft gemacht hat, sondern weil dieses Heft auch in einem größeren ARCH+-Kontext betrachtet werden muss: Dieses Heft über den SFB 230 erschien, wie bereits erwähnt, im März 1994 und im Juni, also wenige Monate später 1994, erschienen das berühmte Heft "Von Berlin nach Neuteutonia". Und es ist ja doch hochinteressant, welche Rollen den Städten Berlin und Stuttgart in dieser Heftfolge zugewiesen werden: das progressive Stuttgart versus das konservative Berlin. Hast du das ähnlich wahrgenommen?
Ja schon, sogar am eigenen Leibe, weil irgendwann mal – jetzt nicht gleich '94, aber '98 oder 2000 – wurde man ja zu Wettbewerben gar nicht mehr eingeladen. Als Juror – was ich so oder so nicht gerne mache und schon seit langem aufgegeben habe – so oder so nicht. Da war schon die ganz große Dissonanz, die war da. Ich meine, was war Stuttgart zum damaligen Zeitpunkt? Das war immer noch der Geist der zweiten Stuttgarter Schule, geprägt sehr stark durch Peter von Seidlein, durch Kurt Ackermann, durch den hier nicht lehrenden, aber ansässigen Günter Behnisch. Wir sprechen von transparenter Architektur als demokratischer Architektur und all diese Dinge. Und auf einmal kommt die Chance, die wir nie mehr haben werden, nämlich mit einem Aufwand von Abermilliarden D-Mark und später Euro eine Hauptstadt, die lange Jahre keine Hauptstadt war und vor sich hin gegammelt hat, auf einmal wieder zu einer Hauptstadt zu machen. Und als ich in dem ersten Vortrag von Stimmann war, dachte ich die ersten fünf bis sechs Minuten, der nimmt uns jetzt alle auf den Arm, weil da kommt jetzt irgendwie so eine Pointe, die das bisher Gesagte auf den Kopf stellt, aber der Mann hat gerade so weiter geredet und hat gesagt, eine deutsche Hauptstadt kann nicht aus Metall und Glas und Kunststoff bestehen, eine deutsche Hauptstadt muss aus Stein gebaut sein und der Glasflächen Anteil darf maximal X Prozent sein und und und. Und ich habe gedacht, ich bin im falschen Film. Ich habe gedacht, ich bin im falschen Film. Und letztlich, um es mal ganz klar zu sagen, ist ja in Berlin die größte städtebauliche und architektonische Chance nicht genutzt worden, die wir in den vergangenen 60, 80 Jahren hatten. Das ist nicht die Stadt für das neue Jahrtausend, es ist die Stadt für das alte Jahrtausend. Das ist eine Architektur und ein Städtebau, der nicht auf die damals bereits evidenten und klar auf dem Tisch liegenden Fragen eingegangen ist.
Das Berlin des Hans Stimmann ist ja sehr stark im Kontext einer Obsession einer ganzen Generation von Stadtplanern und Architekten entstanden, die sehr vehement von der "Europäischen Stadt" gesprochen haben. Konntest du mit diesem Begriff jemals etwas anfangen?
Ja, nun gut, klar, man ist ja mit europäischen Stadtstrukturen und Stadtbildern und Stadtmythen aufgewachsen. Das war ja ein esseztieller Teil der Erziehung, auch der Selbsterziehung, die man sich angedeihen ließ durch viele Reisen. Aber "Europäische Stadt" war auch immer Stadtweiterentwicklung und war, zumindest ich als Nicht-Städtebauer habe das kaum beobachtet, eine Stadtrückentwicklung zu alten Zielen hin. Und das ist doch genau das, was in Berlin passiert ist. Weißt du, die Fragen lagen auf dem Tisch und eine für die Zukunft verantwortbare und für die Zukunft ausgerichtete neue Hauptstadt eines Landes wie dem unseren, einer Nation wie der unseren, hätte die grundlegend anders beantworten müssen. Die meisten Fragen sind ja überhaupt nicht beantwortet worden. Es waren die traditionellen Straßengefüge, es waren die traditionellen Verkehrsstrukturen, es waren die traditionellen Baustoffe, es waren die traditionellen Fassaden. Hauptsache, das Fassadenmaterial stimmt, aber ob das Ganze dann nichts anderes ist als wärmegedämmter Sondermüll, ob diese Häuser so und so viel Energie verbrauchen oder emittieren durch die Schornsteine, das war ja alles überhaupt nicht Teil der Diskussion. "Heat Island Effects", innerstädtische Überhitzungen – das war damals bekannt und jeder hat gesagt, wenn wir eine neue Stadt bauen, dann müssen wir die Stadt so bauen, dass das alles nicht passiert. Aber die Chance ist vorbei und jetzt muss man sich eben anderen Dingen widmen – ich engagiere mich da nicht.
Nach meiner Beobachtung ist der Diskurs der "Europäischen Stadt" in den letzten Jahren etwas in den Schatten getreten auf Kosten eines Begriffs, der üblicherweise, also auf Kosten des Diskurses um die "Smart City". Du hast dich jetzt natürlich sehr stark mit dem mit allem, was zum "Smart Home" gehört, auseinandergesetzt, aber du verwehrst dich gleichzeitig gegen diesen Begriff. Vielleicht kannst du ganz kurz darlegen, was dich an dem Begriff des "Smart Home" stört und wie du den Begriff der "Smart City" einschätzt.
Also die Konnotationen mit diesen Begriffen sind ja bei vielen Menschen jeweils unterschiedlich. Und das, was im wesentlichen überwiegt, wenn wir auf den normalen Bewohner seines Hauses, seiner Wohnung, den Büronutzer mal anspielen, ist, dass das Gebäude intelligent ist, dass das Gebäude im wesentlichen alle Prozesse von alleine regelt bis hin zum Wiederauffüllen des Kühlschranks und solchen Albernheiten oder dass du dann eben von deinem Haus auch angemahnt, was das ist der nächste Zahnarzttermin wieder fällig ist, weil man soll ja zweimal im Jahr zur Überprüfung gehen et cetera. Ich sehe das als einen großen Schritt hin zu einer Entmündigung der Menschen oder man kann – das dürfte ich jetzt nicht sagen –, aber an die Verblödung der Menschen führenden Prozesse. Also wenn der Mensch nicht mehr selber in der Lage ist, gewisse kausale Zusammenhänge zu memorieren, zu antizipieren und entsprechend zu handeln, sondern wenn er die Betriebsanleitung von seinem Gehirn weggibt in irgendeine sprechende Lautsprechereinheit, die gleichzeitig noch alle diese Daten irgendwo verkauft und der Einzelne weiß gar nicht, wohin sie verkauft werden, aber die werden ja verkauft, damit er manipuliert werden kann, weil sonst ist ja die Information nichts wert, also er akzeptiert die Manipulation, was ja nicht nur auf "Smart Home", sondern auch auf Smartphone und ähnliches zu beziehen ist – dann sage ich, ne. R128 beispielsweise habe ich nie als ein "Smart Home" bezeichnet. Wenn ich einen Kleincomputer habe, der die Heizung und die Kühlanlage so bedient, dass es energieminimal ist, dann mögen manche Leute sagen, das ist smart, aber ich sage, das ist ein ganz einfacher maschinenbautechnischer Optimierungprozess. Da ist auch keine Intelligenz dahinter. Intelligent sollen nicht die Häuser sein, sondern die Bewohner. Und smart sollen nicht die Häuser sein, sondern die Bewohner. Und insofern habe ich große Probleme mit dieser Entwicklung in toto. Und wenn wir das jetzt übertragen auf die "Smart City", dann gibt es natürlich Phänomene, die sich einer Bewältigung durch die Menschen entziehen. Also man kann nicht eine Stadt, jetzt nehmen wir ja mal Stuttgart, wo jeden Tag so und so viel 100.000 Autos aus der Umgebung hineinfahren, ampeltechnisch so steuern, dass man nie einen Stau hat. Das schafft der Mensch nicht. Vielleicht schafft es ein Computer mit einer hohen Rechenleistung und einer entsprechenden Software. Wir lassen jetzt das Stichwort künstliche Intelligenz bitte mal außen vor, weil auch dazu habe ich ein paar sehr kritische Kommentare zu machen. Aber eine ganz normale Maschinensteuerung oder Produktionstechnik, also eine Summe von Maschinen, die miteinander interagieren, ist das geeignete Mittel, um so ein Problem zu lösen, wenn man es denn nur angehen würde – was man in Stuttgart ja nicht tut. Aber das ist ein anderes Thema. Aber dazu muss ich jetzt nicht smart sein. Also dieses smart – und deshalb haben viele Menschen da auch ein Unsicherheitsgefühl demgegenüber – es suggeriert schon, ich nehme dir vieles aus der Hand, was du nicht kannst mit der Gefahr, am Ende nehme ich dir alles aus der Hand. Auch das, was du kannst. Und das ist der falsche Weg. Also wir müssen doch akzeptieren, dass wir Menschen sind in all unserer Unvollkommenheit und das ist doch gerade das Schöne dabei. Ja, wenn man diese ganzen "Smart Factories" jetzt nimmt, so Industrie 4.0, also "Machine Human Interaction" – man muss es ja Englisch sagen, damit man es nicht so richtig begreift, das hört sich dann meistens auch ein bisschen mehr erotisch an oder sonstwie, mondän. Was ist denn das? Eine "Machine Human Interaction"? Das heißt, man steht jetzt mit ein paar Robotern irgendwo – alles ist clean und sauber und frische Luft, ein prima Licht, alles entspricht den berufsgenossenschaftlichen Anforderungen – und interagiert mit einer Maschine. Und nach spätestens acht Stunden stellt man fest, die Maschine ist tausendmal präziser, sie ist tausendmal schneller und sie weiß 100.000 mal mehr als ich selber. Da geht man abends nach Hause und sagt, okay, was ist meine Rolle in diesem Spiel. Bin ich der Platzhalter, damit es noch irgendwie menschlich ist? Oder was soll ich da tun? Eins ist auf alle Fälle klar: Ich bin überall in einem Wettbewerb. In den klassischen Disziplinen schnelligkeit, Präzision, Energieverbrauch, wenig Kranksein immer der Verlierer. Ja, das ist doch nicht eine Zukunft, die wir anstreben sollten.
Werner, dein aktuellster Aufsatz in der ARCH+ erschien im Jahre 2007, wenn ich da richtig informiert.
Das ist aber schon lange her!
Ja, und zwar in einer Ausgabe mit dem Titel "Architektur im Klimawandel". Dieser Aufsatz trägt den Titel "Bauschaffen auch im Sinne der Nachhaltigkeit". Und du warnst in diesem Aufsatz vor einer Zitat "depressiven Entsagungensästhetik, die man üblicherweise der ökologischen Architektur zuschreibt" und schließt mit der Hoffnung auf oder mit dem Aufruf, dass die Ökologie "atemberaubend attraktiv und aufregend" zu machen sei. Wie kommt man da? Was sind die Wege, um Ökologie atemberaubend und attraktiv zu machen?
Wenn wir die Hauptforderungen nehmen, die wir im Bauschaffen erfüllen müssen – wir tun es heute nicht, aber wenn wir es nicht rasend schnell schaffen, das zu tun, dann hat die Menschheit als solche ein essenzielles Problem –, wenn wir sagen, mit weniger Material für mehr Menschen emissionsfrei bauen, recyclinggerecht bauen, mit Rezyklaten bauen, dann denkt jeder, da steht ja überall weniger. Das bedeutet ja – das ist ja vielleicht sogar mit Verzicht verbunden. Spätestens wenn das Stichwort Verzicht aufkommt, ist der deutsche Konsumbürger ja schon mal – da gibt's ja kein Halten mehr. Also man – haben wir ja gesehen bei den Maskentragepflichten bei Corona: Also wenn ich meine persönliche Freiheit abgeben muss, dass ich keine Maske trage, dann gehe ich out of control. Also Verzicht ist schonmal, dann akzeptieren das die Menschen nicht. Ob das klug ist oder nicht, ich glaube, das ist ein gesamtgesellschaftliches Problem, weil Verzicht kann auch etwas sein, was einfach nur sinnvoll ist. Die Konnotation – da bin ich jetzt ein bisschen böse in meinen Formulierungen – mit einer Ökologisierung in Architektur und einem darin stattfindenden, mehr ökologisch korrekten, zukunftsfähigen Leben ist eben häufig auch mit Begrifflichkeiten wie Lehm und Hanf und Make-up-freie Frauen, die in Jutekleidern und flachen Sandalen und den Männern mit Rauschebärten wie die Gründerväter und kritisch dreinblickend und sowas – also auf alle Fälle spaßbefreit, auf alle Fälle spaßbefreit – konnotiert wird. Und ich sage, das ist den Menschen nicht angemessen. Wenn die Menschen gesagt bekommen, du hast jetzt die nächsten 30 Jahre mit Sicherheit eins, nämlich keinen Spaß oder Freude am Leben und auch Freude an der Lust, dann gehen die da nicht mit, weil das ist eine Verletzung der Qualität des Menschseins. Und ich sage, man kann emissionsfreie, materialminimale und sonstige Häuser bauen und die sind trotzdem so lustvoll, dass die Leute sich da drinnen wirklich mal totlachen können und Spaß haben können. Also das meine ich damit. Und damit kommt jetzt natürlich wieder dieses Moment des Taktilen, des Odorischen, dieser ganzen die Sinne weckenden, im positiven Sinne, nicht unterdrücken, sondern aufweckenden.
Kommen wir langsam zum Schluss. Du hast diesen Artikel 2007 geschrieben. Seither ist sehr, sehr viel passiert bekanntlich, nicht zuletzt Fridays-for-Future-Proteste. Wenig später dann die Corona-Pandemie, die über Nacht quasi sehr viele Umstellungen bewirkte, die Greta Thunberg und andere niemals für möglich gehalten hätten. Siehst du für dein politisch-architektonisch-ingenieurwissenschaftliches Projekt gerade auch ein Potenzial in dieser Situation, in der wir uns gerade befinden, stichwort Corona-Pandemie?
Weniger durch Corona, aber ich sehe das Potenzial kontinuierlich ansteigen seit ungefähr fünf Jahren. Es war vorher schon da, aber seit fünf Jahren nimmt es mit einer bemerkenswerten Intensität und Geschwindigkeit zu. Was ich an der Summe der von mir stets pro bono geleisteten Beratungstätigkeit für die Politik, für die politische Kaste ablesen kann. Also während man früher vielleicht noch ein Rufer in der Wüste war, der ab und zu Interesse gefunden hat, aber dann hat sich das Ganze schnell wieder woanders hin orientiert – ich meine, wir müssen immer sehen, zwischen dem ersten Bericht des Club of Roms und der daraus folgenden logischen Konsequenz der Entwicklung eines Ein-Liter-Autos, was überhaupt nie richtig in den Markt kam, weil es ging ja dann schon wieder vorwärts, Ende der Siebziger, Anfang der Achtziger kam die Generation der Popper, also eine jugendliche Klasse, die im Wesentlichen ihre Befriedigung darin gefunden hat, dass sie möglichst teure Luxusprodukte offen zur Schau trägt und damit natürlich auch ein Sozialranking einführt, was brutaler hätte nicht sein können – aber ganz bewusst. Die Autos wurden wieder schneller bis rasend schnell, sie wurden immer größer und immer schwerer bis heute. Das heißt, man hat ja aus alledem im Wesentlichen nichts gelernt – nichts. Und es gab dann auf einmal einen Schreckensmoment, als am Anfang des Jahrtausends der Bericht der Vereinten Nationen aufkam mit Global Warming et cetera et cetera und diesen Warnungen, Kyoto und Paris. Und dann hat es zumindest bei einer Reihe von Bürgern, aber leider nicht der Majorität geklickt. Es hat aber bei einer Reihe von Politikern geklickt, die dann natürlich auf ihrer Suche, wo kriege ich jetzt Informationen her, die belastbar sind, Informationen, die man versteht – auch als der Politiker – dazu geführt haben, dass immer mehr Leute mich anrufen. Und heute berate ich vom Baubürgermeister über Oberbürgermeister, Staatssekretäre, Minister, Ministerpräsidenten eine Vielfalt von Menschen unterschiedlicher politischer Couleur – nicht jedweder, da bin ich nicht dafür zu haben, aber sagen wir mal in den Bereichen grün bis rot bis schwarz auf alle Fälle. Und ich merke, allein an den Rückfragen – ich habe jetzt gerade eine Rede zu halten und ich habe doch wieder die Zahl vergessen, die Sie mir letzthin sagten, weil das waren ja 20. Ist es so? Sage ich, ja, so ist es, Herr Minister – ok, dann… Das hat dann dazu geführt, dass ich ein Vademecum geschrieben habe. Also so ein, ich glaube, das ist DIN-A5-großes Blatt, Karton mit abgerundeten Ecken, wo die wesentlichen Dinge drauf sind. Und die kann man sich dann, bevor man eine Rede hält, nochmal kurz durchlesen und dann bringt man die Zahlen nicht durcheinander, weil – das ist einfach Bestandteil meines Lebens und meines Schaffen. Ich sage immer, wir müssen die Fakten präzise benennen. Das heißt, eben auch dazugehörige Zahlen präzise benennen und die zwischen diesen Fakten wirkenden Zusammenhänge müssen wir präzise darstellen. Und das ist die Grundlage jedweder Wissenschaft. Alles andere ist wissenschaftliche Stümpertum. Es ist aber auch die Grundlage jedweder Demokratie. Und wenn ich Sachzusammenhänge unvollständig oder sogar manipuliert in ihrem Charakter darstelle, dann öffne ich natürlich diesem nebulösen Populismus Tür und Tor, weil dann lässt sich das alles bewirtschaften. Aber wenn man den Menschen nachvollziehbar mit einfachen Worten erklären kann – und das ist die Quintessenz jeder Wissenschaft, also schwierig reden kann ja jeder, so dass es keiner versteht. Aber ich sage immer, der Wissenschaftler hat es genau dann verstanden, wenn er es in einfachen Worten rüberbringen kann. Wenn man den Menschen diese Zusammenhänge darlegt, dann sagen die, jetzt habe ich es verstanden. Jetzt gucke seit 20 Jahren irgendwelche Sendungen an und habe es nicht verstanden – jetzt habe ich es verstanden. Gehen Sie mal da raus, oder geh du mal da raus und frage die Leute nach dem Kernzusammenhang für die Erderwärmung. Meine Erfahrung ist, dass ungefähr 70 bis 80 Prozent der Deutschen – auch solche mit akademischer Bildung – das nicht erklären können. Das ist nur Geschwurbel, aber keine Erklärung. Und wenn ich sage, worin besteht eigentlich unser Energieproblem – kann keiner erklären. Ja, und die Dinge sind ja nicht schwierig. Man muss es ja nur tun – und das machen wir. Und vielleicht sind wir dann deshalb auch als Berater so beliebt. Ja, das ist mein Leben. Also ich muss mir jetzt Mühe geben, dass ich auch mal meine Buntstifte nehmen kann, um irgendwelche Produkte – jetzt entwerfe ich gerade einen Stuhl, ein Herrenhemd. Ich habe gerade ein Schiff entworfen – wobei das nicht aussieht wie ein Schiff, aber es ist das größte Gebäude Hamburgs, das aber nicht fest mit dem Erdboden verbunden ist. Deshalb ist es kein Bauwerk und weil es im Wasser schwimmt, ist es also ein Schiff. Diese Dinge muss ich auch irgendwann nebenher machen. Insofern muss ich diese Beratungs- oder messianische Belehrungstätigkeit ein bisschen einbremsen.
Ich sehe, es gibt genügend Gründe für einen neueren ARCH+-Artikel. Vielen Dank, Werner, für das Gespräch!
Danke, Stefan, danke!