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Der Basler Architekt Jacques Herzog über sein Studium bei Aldo Rossi, das Selbstverständnis der Schweizerischen Linken in den 1970er Jahren und seine Distanz zum Baugeschehen im Berlin der Nachwendejahre.
Das Gespräch fand am 10. Dezember 2020 online statt im Rahmen des Forschungsprojekts "Innovationsgeschichte im Spiegel der Zeitschrift ARCH+" und erschien erstmals auf dieser Website im Juli 2021.
Redaktion:
Leo Herrmann, Sandra Oehy
© IGmA/BBSR
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Herr Herzog, wir führen unser Gespräch im Rahmen eines Forschungsprojektes zur über 50-jährigen Geschichte der Zeitschrift ARCH+ und Sie gehören ja mit Ihrem Büro Herzog & de Meuron zu den wenigen Büros, denen eine ganze Ausgabe der ARCH+ gewidmet wurde – ich habe sie mal mitgebracht. Wir sprechen hier über eine Ausgabe aus dem Jahre 1995. Ich schlage vor, dass wir auch gleich zu dieser Ausgabe zu sprechen kommen, aber vorweg würden wir gerne mit Ihnen, würde ich gerne mit Ihnen über die letzten 50+ Jahre Architekturdiskurs in Deutschland im deutschsprachigen Raum, auch in der Deutschschweiz sprechen. Sie haben ja gemeinsam mit Pierre de Meuron ab 1970 bis '75 an der ETH Zürich studiert und dort wurden Sie – das haben Sie ja auch verschiedentlich berichtet – sehr stark, nicht zuletzt von Aldo Rossi auch, geprägt. Aldo Rossi wurde ja kurz zuvor in Mailand entlassen, auch wegen seiner Solidarisierung mit den streikenden Studierenden und er fand dann Asyl sozusagen in der Schweiz an der ETH und bildete aber dann, obwohl er Kommunist ist oder gerade deswegen, sozusagen ein Gegengewicht zu der streng marxistisch ausgerichteten Architekturlehre beispielsweise eines Jörn Janssen. Wie haben Sie diese Konflikte oder Tendenzen im Bereich der Architekturtheorie als Studierende damals wahrgenommen? Hat man das überhaupt wahrgenommen oder ist das eher im Nachhinein dann einem alles klar geworden?
Nein, ich denke, das war eine Zeit, wo alle Studenten und Intellektuellen eigentlich links waren und mehr oder weniger einfach bewusst, mehr oder weniger auch sich auseinandersetzen mit den theoretischen Gedanken, die damals aus Frankreich und aus Deutschland – Frankfurter Schule und so weiter – kamen. Und wir waren alle eigentlich insofern politisiert und es war ganz klar, dass wir auch solche Dozenten an der Schule wollten. Zunächst muss ich sagen, dass sowohl Pierre als auch ich an die Architekturschule gingen, ohne eigentlich zu wissen, was das ist – Architektur. Und wir hatten ja auch nicht einen klaren Plan. Ich persönlich wollte ja entweder Kunst studieren und Kunst machen oder dann Naturwissenschaften. Und so kam es dann ja auch: Ich habe ja mit Chemie und Biologie angefangen und habe aber eigentlich Kunst als Autodidakt gemacht – lange, bis weit nach 1980 –, weil ich eigentlich mehr interessiert war an Kunst und durchaus an der politischen Wirkung von Kunst. Also da war ich sehr inspiriert von Marcuse, von der Ästhetiktheorie von Marcuse, wonach eben die Kunst – und nicht die didaktische Kunst eines Bresson, die viel poetischere Kunst, die freie Kunst – eigentlich das größte politische Potenzial hat, revolutionäre Potenzial. Ich war jetzt kein Revolutionär, aber mir waren diese Überlegungen sehr bewusst und auch sehr wichtig. Und die ETH hat dann diese deutsche Schule etabliert als Lehrer und da war ich – ich war bei Schulte und bei Janssen. Und das war interessant, weil das waren interessante Leute, aber es waren natürlich keine Architekten. Aber das war mir damals Wurst, weil ich wusste gar nicht, was das ist, Architektur. Und noch viel mehr als Schulte und Janssen hat mich damals natürlich Lucius Burckhardt geprägt, der ja auch aus Basel war und wir waren eigentlich immer im Zug zusammen. Ich war wie ein Teil – nicht seiner Familie, aber wir waren sehr nahe mit Lucius. Wir waren ja dann auch zwei Jahre bei ihm eingeschrieben. Und wir können ja nachher vielleicht noch darauf zurückkommen, was seine Wirkung war. Die Ankunft von Rossi war natürlich ein riesiger Glücksfall. Ich würde mal sagen, dass ohne Rossi diese ganze deutschschweizer Szene nicht entstanden wäre, weil Rossi hat genau das eigentlich gemacht, was ich vorhin von Marcuse erwähnte: Rossi hat eigentlich das Schöne, das Ästhetische, das Verführerische, das Materielle, das Sinnliche hat er eigentlich ausgedrückt – also viel mehr als Person als in seiner Arbeit, noch viel mehr in seiner Person. Und er hat dann mit einem Schlag eigentlich die etwas öde, marxistische, mechanistische Tendenz von Schulte und Janssen also, wie soll ich sagen, hat er wie beiseite geschoben. Und das Tolle bei Rossi war ja, dass wir ihn so akzeptierten, weil er eben Kommunist war, weil er ganz klar ein Linker war. Aber er war ein Linker – ich würde sagen, eben die italienische Linke, die wie Feltrinelli ja eigentlich aus Bourgeosie kommen und die eigentlich immer schon das Ästhetische mit dem Revolutionären verbanden, auch in einer gewissen romantischen Art und Weise. Und ja, Rossi hat so einen unglaublichen Impact gehabt und da bin ich jetzt noch dankbar: als Lehrer – und wie das so ist, als Student machst du dann… Es gibt eine Semesterarbeit von Pierre und von mir, die sehr rossianisch ist. Aber wir haben dann das eigentlich schnell verlassen und haben aber dank Rossi eigentlich den Weg in die Architektur hinein gefunden – aber immer mit dem gleichzeitigen Interesse an, wie soll ich sagen, an diesen sozialen Komponenten, die eher durch Lucius Burckhardt vermittelt wurden und auch gelebt wurden. Vielleicht so habe ich das erlebt und so – die ETH hat sich dann, das vielleicht als Beantwortung ihrer Frage, dann wie gewandelt. Rossi wurde dann auch quasi entlassen, weil man spürte, dass – man wollte die Linke quasi total eliminieren. Und nachher kamen dann Leute wie Dolph Schnebli und andere, die eigentlich mit der Linken, mit dem linken Diskurs, der uns interessierte nichts mehr zu tun hatten. Aber er konnte dann quasi auf eine konventionellere Art und Weise Architektur vermitteln. Und das wurde dann angenommen, weil die Studenten waren wie infiziert. Das ging nicht nur uns, sondern andere hatten auch eben plötzlich gemerkt, dass Architektur, das Ganze, was Architektur ausmacht – Typologie, Schönheit, der Bezug zur historischen Stadt, auch das Historische –, dass das eben ein interessanter Weg ist, auch im 20. Jahrhundert. Und ich glaube, das ist genau das, was dann letztlich in Deutschland fehlte. An einer Schule gab's keine solche Tendenz. Und deshalb ist aus Deutschland aus dieser Generation auch kaum etwas Interessantes entstanden.
Ich versuche jetzt eine Brücke zu schlagen zur Kultur, wenn man so will, der Zeitschriften. Die ARCH+ wurde ja bekanntlich 1968 gegründet und zwar an der Universität Stuttgart von Studierenden und Mittelbauern im Kontext einer Studienreform. Haben Zeitschriften in Ihrem Studium, während Ihres Studiums eine wichtige Rolle gespielt? Ich denke jetzt natürlich an die ungefähr zeitgleich gegründete archithese oder auch die etwas älteren Zeitschriften Werk oder Bauen + Wohnen – Werk und Bauen + Wohnen fusionierten ja dann erst zehn Jahre später 1981 zu Werk, Bauen + Wohnen. Hat das eine Rolle gespielt?
Ja, eine enorme Rolle. Also ich glaube ja – wenn wir jetzt über Medien und Vermittlung von Architektur sprechen würden, wäre die Rolle oder die ursprüngliche Rolle von Zeitschriften ein interessantes Beispiel. Für uns junge Architekten damals, als wir das Blaue Haus bauten, das war '79, das war etwas vom Frühesten. Wir waren enorm froh, dass das so schnell publiziert wurde, eben in archithese, in einem neuen Format. Und heute hat ja das völlig an Bedeutung verloren. Später war ja dann die Tageszeitung wichtig, die lokale, aber dann auch die nationale und internationale – und die hat mittlerweile ja auch an Gewicht verloren. Und dann ging das so weiter. Heute kann man sagen, Financial Times ist ein wichtiger Player, wenn es noch um Printmedien geht und sonst sind das ja ganz andere Formate. Das ist für sich selbst gesprochen ein interessantes Thema, das diese 50 Jahre jetzt auch von ARCH+, denke ich, einzuordnen hilft. Also, ARCH+ war eine zunehmend wichtige Stimme, weil sie natürlich so pointiert positioniert war und viel mehr als jede andere Zeitschrift – also viel mehr als archithese natürlich auch diesen politischen Diskurs führte.
Wann haben Sie zum ersten Mal die ARCH+ wahrgenommen. Kann man das so sagen oder ist das schwierig?
Das weiß ich nicht mehr so genau. Aber in Deutschland war das – es gab ja noch die Bauwelt. Und das sind so die traditionellen Medien, die waren durchaus auch wichtig, wenn du dein Verständnis – in einem klassischen Rollenverständnis als Architekt ist das wichtig. Aber ARCH+ war natürlich viel wichtiger, weil uns dieser intellektuelle und künstlerische Diskurs viel mehr interessierte als eigentlich der konventionelle, sage ich mal, architektonische Diskurs, der an anderen Zeitschriften geführt wurde.
#Moderne
Die ARCH+ war zumindest in Deutschland immer sehr stark ein Medium, das ein emanzipatorisches Projekt der Moderne auch in den heißesten Postmoderne-Phasen irgendwie dann doch noch hochhalten wollte. Welche Rolle hat für Sie das Erbe der Moderne, auch im Sinne der heroischen Architekturmoderne der 1920er Jahre und auch später, gespielt? Ich denke da jetzt auch an eine Personalie wie Sigfried Giedion. War das für Sie Vergangenheit oder hatte das auch noch ne Gegenwartsrelevanz? Die Frage könnte natürlich jetzt auch eine Figur wie Hans Schmidt beinhalten. Ist das für Sie wichtig gewesen oder nicht so relevant?
Eher Schmidt, weil Schmidt habe ich noch gekannt. Den suchte ich auf. Das war mir enorm interessante Figur, sehr intelligent, sehr differenziert – und er war natürlich ideologisch völlig fehlgeleitet. Er glaubte wirklich auch noch nach dem Krieg an eine Möglichkeit – und zwar nicht im aufklärerischen Sinne der 68er-Bewegung, sondern noch fast in einer neo-stalinistischen Tradition. Er ging ja zurück nach Ostberlin und so weiter. Aber er war auch ein sehr guter Architekt. Er hat ja auch ein paar ganz tolle Villen hinterlassen und Villen gebaut. Und er war für mich eine weitere Bestätigung, dass du als Architekt letztlich einen intellektuellen Diskurs, ein intellektuelles Denkmodell baust, aber letztlich die Architektur selbst das zum Ausdruck bringen muss. Und das eine sehr – das ist das Einzige, was ich eigentlich bei Rossi wirklich interessant finde, dieses Insistieren auf Architektur als Architektur. Das hat nichts mit Autonomiegedanken zu tun, sondern mit einer Tatsache, dass letztlich Architektur in ihrer Komplexität nur durch das Werk selbst zum Ausdruck kommt, weil es gibt keinen, der dir eine Einführung oder eine Anleitung geben soll, damit ein Werk zu dir sprichst und du zu dem Werk oder zu dem Ort. Und – vielleicht kommen wir später nochmals drauf – aber bei Schmidt war das auch erkennbar. Wenn du diese Häuser aus den späten 20er Jahren anschautest – das hat eine Radikalität im gebauten Selbst, die viel stärker war als alles, was wir lasen. Hans Meyer war ja auch ein Basler – Schmidt und Meyer. Und das fanden wir natürlich toll, weil die eine viel radikaler Schiene verfolgten als die Zürcher Kollegen: Haefeli Moser Steiger oder wie die alle hießen. Das war eine viel moderatere, bourgeosere Ästhetik – durchaus interessant, so ein bisschen Heimatstil, so ein bisschen fast, wenn ich es positiv formulieren möchte, pop-mäßig avant la lettre. Das war eine ganz andere Schiene. Und wenn Sie mich fragen, hast du das wahrgenommen: Diese Differenzierung in der Moderne, oder auch Salvisberg fand ich eigentlich immer eher langweilig als Architekt – also sehr elegant, sehr schön, aber eigentlich nicht mit dieser Radikalität, die es braucht, um eben auch in Jahrzehnten später noch etwas, wie soll ich sagen, zu spüren und zu vermitteln von dem, was die Moderne eigentlich wollte.
Sie haben jetzt bereits den Namen Lucius Burckhardt erwähnt, den zweiten, wenn man so will, wichtigen Lehrer neben Aldo Rossi für Sie, während Ihrer Zeit an der ETH. Was war es genau, was Sie bei Lucius Burckhardt mitgenommen haben, wovon Sie sich faszinieren ließen? War es diese Kombination aus Stadtsoziologie und Performance Art?
Ja, das mit der Performance, das hat vielleicht ein bisschen Hans Ulrich Obrist ihm dann angehängt – was ich gut finde, dass man ihn dann auch als Künstler irgendwie wahrgenommen hat. Das war damals noch nicht so. Lucius war eine eigenartige Mischung aus einem humanistischen Basler Bürger, der ja auch aus der Burckhardt-Familie kam – er schimpfte über Jacob Burckhardt, den er als reaktionär bezeichnete. Er war unheimlich intelligent und sehr fein, der Lucius, aber mich nervte auch seine ideologisch grüne Seite: Er wollte ja eigentlich gar nichts verändern. Das hat auch eine ganz eigenartige Mischung aus etwas Revolutionärem, Widerstandsmäßigem, aber auch aus etwas Konservativem. Dieses Bewahren von Gebäuden, von Landschaften, das hat wie zwei Seiten gehabt. Und beide haben wir wahrgenommen und wir waren ja dann nie jene, welche immer alles stehen lassen wollten. Da hat er ja ganz früh angefangen, indem er Teile der Stadt erhalten wollte, die – wo wir ganz anderer Meinung waren. Aber es war jemand, der sehr früh diese Überlegung bei uns platzierte und das ist sicher immer ein wichtiges Element gewesen, auch eine ganz andere Art von Ästhetik, nämlich diese Normalität, dieses Alltägliche. Das ist etwas sehr Starkes in unserer Arbeit geworden – ganz früh, aber auch immer wieder eigentlich – die Aufmerksamkeit für das, was da ist, und die Schönheit für das, was da ist, ohne dass man immer selbst Hand anlegen muss oder dabei sich einbringen muss.
Machen wir an dieser Stelle einen kleinen Sprung und kommen langsam aber sicher eben auf dieses Heft, dem Werk von Herzog & de Meuron gewidmeten Heft aus dem Jahre 1995 zu sprechen. Wenn wir ganz kurz mal rekapitulieren, was in dieser Zeit im Kontext der ARCH+ so publiziert wurde: Also ein Jahr zuvor gab es diese legendäre Ausgabe, " Von Berlin nach Neuteutonia", dieses Heft aus dem Jahre 1994 zum gerade heraufziehenden Berliner Architekturstreit. Im selben Jahr wurde ein Heft veröffentlicht zum Werk von Frei Otto und dem Thema der "Natürlichen Konstruktion". Und das sind ja alles Hefte, die kurz nach der Wiedervereinigung veröffentlicht wurden, die entweder das, was sich in Berlin gerade abzeichnete, um die Person Hans Stimmann herum abzeichnete, kritisch kommentierte, aber auch mögliche Alternativen aufzuzeigen versuchte. Und zu diesen möglichen Alternativen zu Berlin gehörte dann eben auch dieses Angebot Herzog & de Meuron aus der Schweiz. Haben Sie – waren Sie sich bei dem Heft im Klaren darüber, dass Sie hier eben auch eine Funktion innerhalb eines vielleicht sehr deutschen Architekturdisputes spielten? Und wenn ja, haben Sie diese Rolle gerne gespielt?
Ich wusste natürlich von der kritischen Haltung von ARCH+ gegenüber der Ideologie quasi, mit der Berlin wieder neu gebaut und aufgebaut und erneuert werden sollte. Und wir haben ja eigentlich in dieser ganzen Phase während – ja, bis vor vier, fünf Jahren, als wir ein Projekt vorgeschlagen bekamen, Tacheles, wie Sie ja vielleicht wissen, und dann später auch am Wettbewerb für das Kulturforum teilnahmen und auch den Wettbewerb gewannen, das sind ja fast 20 Jahre später oder sind 20 Jahre später – vorher wollten wir… Es gab keinen Platz oder keinen Weg für uns in dieser Ideologie oder in dieser Tendenz. Und ich schaue jetzt, wenn ich das anschaue, weniger kritisch an – weil ich finde eigentlich Städte immer interessant. Und die machen manchmal dummes Zeug und manchmal besseres Zeug und es ist manchmal schwierig in der Zeit selbst das zu beurteilen. Und ich finde es jetzt im Nachhinein interessant. Natürlich, man spricht immer über die Brüche in Berlin, aber es gibt ja auch nicht nur Brüche. Es gibt ja auch sehr viel dann am Stück von irgendeiner Idee, die sich dann ausdrückt – jetzt eben auch über diese Stimmnannsche Welt. Und da gibt es ja auch eigentlich schöne Gebäude oder interessante Gebäude– wenn ich denke an den Backstein-Turm von Kollhoff zum Beispiel und andere Sachen. Und es gibt ja dann auch die Sachen, mit denen wir uns näher fühlten, die Sachen aus den 50er Jahren. Wenn ich das Hansa-Viertel anschaue oder wenn ich eben auch das Kulturforum, diese Einzelsolitärbauten anschaue. Das sind interessante Themen – aber erst viel später konnten wir uns da einbringen, weil vorher wären wir gebunden gewesen an einen Kanon, den wir nicht hätten akzeptieren können.
Im Zuge des Berliner Architekturstreites wurde ja auch der Begriff der "Europäischen Stadt" sehr stark gemacht. Haben Sie sich mit diesem Begriff jemals identifiziert? Ich denke jetzt natürlich gerade auch an Ihre frühen urbanistischen Thesen zu Basel oder zu dieser Region um Basel, Mulhouse, Freiburg als trinationaler Stadt. Und später haben Sie sich auch mit dem ETH Studio Basel mit urbanistischen Themen auseinandergesetzt. Ist das Thema "Europäische Stadt" da jemals etwas gewesen, womit Sie sich identifiziert haben?
Nein, nicht so, wie das wahrscheinlich gedacht ist – als eine Form. Ich liebe die europäische Stadt, ich liebe die Dichte, ich liebe die Mischung von historischer Substanz mit neuen Gebäuden – gerade die Schweizer Städte haben das hier, aber auch sehr viele andere, deutsche, französische, italienische, spanische. Da ist ein großes Erbe und ein großer Respekt vor diesen Dingen vorhanden. Aber ich denke, man kann das nicht – man kann nicht das Neue aus diesem heraus denken oder nur teilweise. Da wären wir ja bei der These von Lampugnani und Aldo Rossi oder "L'architettura della cittá", die Typologien. Ich denke, der Blockrand ist immer noch ein interessantes Thema, die Hofbebauung ist ein interessantes Thema. Das war es aber schon vor 2000 Jahren und es wird auch immer ein interessantes Thema bleiben. Ich sehe die Sachen viel mehr als mögliche Rezepte für einen Ort und ich denke, man kann – wir haben ein einfach einen bisschen freieren Zugang. Ich möchte Typologien freier bestimmen können. Und unserer Studie zu "Basel, eine trinationale Stadt im Werden" haben ja mit einem Künstler zusammen gemacht, mit Rémy Zaugg. Ich denke, das ist eine wichtige Arbeit, weil wir auch ganz andere Themen – eben wie die Leute sich bewegen, wie die Natur die Städte formt. Das sind Themen, die ja dann auch spätere am ETH Studio aufgekommen sind. Da haben wir auch gelernt, indem wir andere Städte irgendwo auf der Welt betrachteten, auch Favelas und und Städte, die extrem verbunden sind mit ihrer Geographie oder mit ihrer Topographie. Und da gibt es so viele andere Sachen, die wichtigere Kräfte sind und die aber auch eigentlich die europäische Stadt geformt haben. Es ist ganz klar, dass ein Fluss Paris und London, oder in kleinerem Maßstab auch eine Stadt wie Basel oder Florenz, bestimmen und dass das ganz klar einen Grund hat und dass das auch Sachen sind, die man auch heute noch respektieren muss und ernst nehmen muss und die auch Inspiration sein können – aber nicht in einer unmittelbaren typologischen Anwendung. Also die europäische Stadt – es würde mir schwerfallen, die jetzt so zu definieren oder so festzumachen an dem, was wahrscheinlich gemeint ist.
Kurz bevor Ihre ARCH+-Ausgabe erschien, gab es eine, für mich nach wie vor eine der besten archithese-Ausgaben. Im Jahre 1990 erschienen war die Ausgabe mit dem Titel "Dirty Realism". In dieser Ausgabe spielte bekanntlich auch ihre Arbeit eine wichtige Rolle. Wie stehen Sie zu dem Realismus-Begriff? Haben Sie sich den jemals aktiv zu eigen gemacht oder würden Sie den heute noch hochhalten?
Es ist halt schwierig mit Begriffen. Eigentlich möchte ich Begriffe vermeiden. Aber ich weiß, was damit gemeint ist – aber nicht alle die damals Publizierten haben das gleiche Verständnis damit. Ich versuche das immer so ein bisschen, "playing down", also irgendwie herunterzuspielen. Ich finde es einfach interessant, das Gewöhnliche, dieser Begriff des Gewöhnlichen – das ist ja schwierig. Das habe ich dann damals auch versucht zu übersetzen in unseren frühen Vorträgen, auch im angelsächsischen Raum. In Amerika oder auch in Frankreich ist das ein schwieriger Begriff. Deshalb ist "Dirty Realism" vielleicht dann eine etwas hochgestochene Übersetzung. Das Gewöhnliche, also die Ästhetik, die es überall gibt, das Gewöhnliche, du kannst das überall finden – in jeder Kultur, in jeder Stadt – und es hat nicht immer die gleiche Bedeutung. Also ich finde interessant an dem Begriff, den Begriff der Sorgfalt, die damit verbunden ist: Dass man genau schaut, was ist das eigentlich, das, was man als hässlich oder was man als, ja, traurig oder melancholisch – es gibt ja ganz verschiedene Begriffe, die man da anhängen könnte an Orte. Mich hat damals zum Beispiel – das ist vielleicht ein gutes Beispiel: Einer der Gründe, weshalb wir uns dann auch mit Thomas Ruff auseinandersetzen und auch befreundeten und bis heute zusammenarbeiten, ist sein Blick auf die Gewöhnlichkeit der deutschen Städte. Es gibt diese wunderbaren Bilder dieser gewöhnlichen, banalen Gebäude, meistens so Nachkriegs-, 50er-, 60er-Jahre-Gebäude, wo man auch Spuren, Regenwasser und so weiter runterrinnen sieht, wie quasi in einem Gesicht die Tränen. Solche Spuren von Leben an Architektur, das finde ich unheimlich faszinierend bis heute. Und das haben wir ja fast wie eine Art Performance, etwas Performatives, immer wieder auch verwendet. Ich weiß nicht, ob damals – in dem Heft, glaube ich, bei ARCH+, da gab es ja nicht nur dieses Ornamentale, das damals ja vor allem besprochen wurde, sondern eben auch diese, nicht nur diese transluzente Fassade mit diesen Bedruckungen nach dem Motiv von Blossfeldt, sondern die Betonfassade, die eigentlich opake Fassade war ja, mit Regenwasser wurde die bespielt. Und ich habe ja dann immer so ein Bild gezeigt, wo die Sonne auf dieses Regenwasser scheint und eigentlich diese opake Wand viel transparenter, durchlässiger erscheint als eigentlich die wirklich transluzente oder transparente Glasfassade. Solche Themen haben mich interessiert, aber immer – vielleicht wurde dann etwas anderes daraus: jetzr eben dieses Spiel zwischen Transparenz und Opazität. Diese Sachen finde ich bis heute eigentlich fast das Interessanteste an Architektur: Wenn du schaust, dass du Sachen siehst, die einfach da sind und die mehr sind als nur das Funktionelle oder mehr als nur das Soziale oder mehr als das Ideologische oder das Stilistische oder das Formale. Und ja, das kann Architektur bieten – das kann nur Architektur bieten. Das kann Plastik, Bildende Kunst weniger bieten, weil sie dich viel mehr bedrängt, weil sie dir viel mehr einen Sinn quasi aufzwingt. Architektur hat ja keinen Sinn in dem Sinn.
#Zeitschriften
Herzog & de Meuron hat bekanntlich sehr viele Ausstellungen gemacht, die eben auch die eigene Arbeit thematisieren. Das bekannteste Beispiel ist vielleicht "Naturgeschichte". Es gibt aber im Vergleich zu dem einen oder anderen Büro – ich sage jetzt mal vielleicht OMA – nicht ganz so viele systematische Kooperationen mit Zeitschriften, mit der Ausnahme El Croquis, das ja vielleicht auch nochmal eine eigene Betrachtung wert wäre, auch im Sinne eines Geschäftsmodells. Welche Themen vermissen Sie in Architekturzeitschriften oder vermissen Sie überhaupt Themen in Architekturzeitschriften? Wie müsste eine Kooperation mit einer Zeitschrift aussehen, damit sie für Herzog & de Meuron heutzutage vielleicht auch unter digitalisierten Bedingungen, unter den Bedingungen der sozialen Medien interessant wäre?
Ich glaube, eine Zeitschrift ist halt etwas, das aufliegt, das dann gedruckt ist und das dann wie eine kleine Bibel, wenn's gut ist, bei Architekturbüros einer gewissen Generation aufliegt und da ein gewisses Leben hat und auch eine gewisse Lebensdauer. Und das ist ja das Sympathische daran. Aber die Vermittlung ist heute ja eine andere. Also so ein Format, wie wir das jetzt führen – so ein Gespräch, das dann quasi über soziale Netzwerke verbreitet wird, das ist die heutige Realität. Und das hat einen viel größeren Impact. Du kannst auch Nicht-Architekten besser erreichen, weil das gefilmte Dokumente sind. Hätte es das früher auch gegeben, dieses Interesse an Architektur wäre dann auch über die eigentlichen Berufskreise hinweg verbreitet worden. Aber vielleicht ist es kurzlebiger. Ich denke deshalb – das sage ich auch immer wieder –, dass Bücher, also Texte von Architekten, nicht sehr lange leben. Und das hat genau auch damit zu tun, weil eben vielleicht sind sie gedruckt, dann haben sie eine bisschen längere Lebensspanne. Vielleicht sind sie aber nur Podcasts oder gefilmte Dokumente, die so präzise, die interessant sein können – ich hoffe, dass das ein interessantes Gespräch wird, dass da ein paar Gedanken klarer formuliert werden können und auch zwischen uns zwei etwas entsteht – aber die Frage ist einfach: Was bleibt davonr? Und das, was bleibt, könnte ja dann das sein, was uns interessiert, auch an einer Zeitschrift. Ich denke nicht, dass man wie damals um eine Zeitschrift herum so ideologische Blöcke bilden kann oder theoretische Gruppen. Das kann man bis zu einem gewissen Kreis machen, aber das ist heute ja sehr verbreitet in politischen Zirkeln: Dann gehen Leute wie in eine Blase. Also wenn jetzt Trump zum Beispiel ein noch rechteres Medium als Fox News versucht aufzubauen, schafft er sich damit eine große Sichtbarkeit, aber nur innerhalb dieser Bubble, dieser Wolke. Und ich denke, dass wir heute eben viel mehr verbubbelt sind als früher – und dass dann in so einer Bubble drin vielleicht, ja, unser Gespräch eine gewisse Verbreitung haben könnte. Ich interessiere mich mehr dafür, wie könnte es uns gelingen, so ein Gespräch vielleicht weniger auf so sehr architektur- und architekturspezifische Themen zu fokussieren und dafür mehr die breite Bevölkerung zu erreichen. Das fände ich persönlich interessanter, also auch das Politische viel stärker zu gewichten und dann eben das versuchen einzubringen in die Bevölkerung. Weil ich denke, es ist wichtig, dass Projekte in Städten – gerade in unseren demokratischen Städten –, dass die Projekte, die vernünftig sind, die auch unabhängig von irgendwelchen Verschwörungstheorien wirklich eine Qualität haben, mehr als andere, dass gewisse Qualitäten eben sichtbar werden können und durchaus kritisch diskutiert – aber dass trotzdem am Schluss eine Plattform da ist, wo eine gewisse Glaubwürdigkeit etabliert werden kann. Das ist das, was mich eigentlich interessieren würde. Und es gibt so lokale Plattformen – es gibt eine ganz junge Gruppe in Basel, die heißt "Architektur Basel", die machen das extrem gut. Die sind völlig unabhängig und haben bereits auch außerhalb von Architekturkreisen eine gewisse Glaubwürdigkeit für was sie machen erreicht. Und vielleicht kann ARCH+ auch durchaus, wie soll ich sagen – mit dem geschichtlichen Hintergrund, welchen die Zeitschrift hat, mit diesem kritischen, mit diesem aber, sag ich mal, nicht ideologisch verhockten, sondern mit einem, ja, natürlich eher linksgerichteten, wie die meisten Medien nach wie vor, aber mit einem offenen Diskurs, wirklich eine glaubwürdige Stimme in Städten bei Fragen zu kritischen Projekten und so weiter etablieren könnte. Das würde mich interessieren. Das wird dir wahrscheinlich auch sehr viele andere Architekten interessieren.
Ich höre jetzt zwischen Ihren Zeilen im Grunde auch dieses wunderbare Schweizer Beispiel einer Mediengründung, nämlich die Republik, durch. Oder liege ich da falsch? Also eine Republik für Architekturinteressierte?
Genau, also das wäre so – die Republik macht das sehr gut. Und ich denke, wir müssen an solchen Formaten arbeiten, um eine Glaubwürdigkeit zu behalten. Auch dass Architektur und Architekten überhaupt – jetzt nicht als einzelne Figuren, das war vielleicht in meiner Generation, es gibt ja drei, vier Kollegen wie wir, die eigentlich sehr viel überall auf der ganzen Welt bauen konnten, nach wie vor können und auch sehr sichtbar sind –, aber dass, sage ich mal, der Architekt als einer, der sich sehr engagiert, auch eben für die Gesellschaft, für eben konkrete Projekte, auch im öffentlichen Raum, das wäre vielleicht die neue Generation von Architekten und die neue Architektur der Zukunft, die ohne Zynismus und ohne eigentlich einen ideologischen Ballast operieren könnte. Das wäre für mich auch eine politisch glaubwürdige Schiene.
Ich würde gerne mit einer letzten Frage schließen: Wir hatten ja vorhin über Aldo Rossi gesprochen. Aldo Rossi hat bekanntlich den Autonomiebegriff in der Architektur sehr stark gemacht, Sie, Herr Herzog haben sich aber gleichzeitig, wenn ich da recht informiert bin, auch immer gegen eine naive Verkürzung dieser Autonomie-Begriffes gewehrt, weil es Ihnen ja gleichzeitig auch immer durchaus um eine Verantwortung, ein politisches Bekenntnis von Architektinnen und Architekten geht. Wir hatten in einem anderen Gespräch Matthias Sauerbruch als Gesprächspartner, der sich die Frage der sich die gestellt hat, wieviel Unschuld kann man sich als Architekt heutzutage leisten? Ich würde Ihnen gerne die Frage stellen, wie viel Unschuld muss man sich leisten können, um als Architekt zu praktizieren.
Also ich weiß nicht genau, was der Sauerbruch genau meinte oder alles meinte, aber es ist klar, dass du als Architekt eigentlich von Auftraggebern abhängig bist – meistens mit Geld, sonst könnten die nicht bauen. Und wir sind in Europa das gewohnt, dass die großen öffentlichen Projekte sind von der Stadt, von der Gemeinde, vom Land. Das heißt, das sind staatliche Projekte. Und außerhalb Europas, schon nur in England, aber dann sicher in den USA, Asien sind das häufig private Players. Und es ist manchmal schwierig herauszufinden, wie seriös und woher kommt das Geld und wo – wenn wir jetzt in politische Verantwortung gehen. Wir haben ja immer eigentlich in den letzten Jahren bei Herzog & de Meuron genug Arbeit gehabt. Das heißt, wir mussten nicht immer alles annehmen und haben dann das ein oder andere hinterfragt, weil wir den Verdacht hatten, dass das, ja, dass das nicht – da könnte unsere Unschuld aufhören, um die Frage jetzt so direkt zu beantworten. Aber es gibt natürlich ganz andere Fälle, wir alle, also sowohl Rem als auch Jean Nouvel als auch wir haben in China gebaut – und wichtige Projekte. Und wir waren ja damals auch noch mit Ai Weiwei, der ja unbedingt auch das Stadion machen wollte, weil er dachte, wie wir, dass so etwas auch einen positiven Effekt auf die Gesellschaft und auf die Emanzipation der Gesellschaft haben wird. Und ich glaube das nach wie vor – nur wird das nicht unmittelbar jetzt geschehen. Ich brauche das aber nicht als Rechtfertigung für mein Handeln. Ich sage nur, dass du eigentlich immer irgendwo angreifbar bist als Architekt, weil du immer mit sehr viel Geld zu tun hast und verbunden bist. Und in der Regel sind die meisten Architekten – auch unsere ganz berühmten Vorfahren wie Mies van der Rohe oder Corbusier – ich sage mal, die hätten ihre Großmutter verkauft, um ein wichtiges Gebäude zu bauen. Ich sehe in der Geschichte der Architektur sehr wenig Verzicht und ich sehe sehr wenig Unschuld. Ich finde, man muss sich dieser Frage stellen und es gibt sicher Momente, wo es ganz klar ist, dass man etwas nicht machen kann. Aber mit Autonomie meinte ich und meint Rossi wahrscheinlich etwas anderes. Ich glaube, das Wichtigste – und das geht sogar über diese ideologische Frage hinweg. Das ist auch ein Thema für sich, ist jetzt zum Beispiel, können wir das Haus der Kunst in München, kann man so etwas erhalten. Was gibt's Stalinistisches, darf man ein stalinistisches Gebäude auch schön finden. All diese Themen, die ja sehr auch psychologieverhaftet sind – was ich auch extrem spannend findet, die ganze Psychologie, die mit der Architektur ja verbunden ist. Architektur ist autonom, der Autonomie-Begriff von Architektur ist interessant, wenn er das meint, was ich vorhin schon sagte im Gespräch: Architektur kannst du nur aus sich selbst heraus verstehen. Wenn du ein Gebäude anschaust – irgendeines, ein 2000 Jahre alter Tempel der Griechen oder der Römer oder eine mittelalterliche Burg oder eine Moschee – du erkennst eigentlich alles aus dieser Zeit: wie die Politik war, wie die Baukonstruktion war, wieso der Dekor so war, wieso der Raum so war, wieso so eine Struktur oder Statik. Wenn ich an die Gotik denke oder an die Romantik, diese völlig unterschiedliche Denkweise, die in diesen Gebäuden selbst drin ist. Man könnte auch zeitgenössische Architektur nehmen: Was da drinnen verborgen ist, das finde ich letztlich das, was Architektur dann macht, dass sie überlebt oder nicht überlebt, ob sie weiterhin auch die Menschen anzieht, ob die Menschen sie benutzen können und benutzen wollen. Das meine ich mit Autonomie. Ich meine mit Autonomie, nicht ein Entziehen von Verantwortung. Das wäre völlig falsch verstanden. So meinte ich das persönlich nie.
Vielen Dank, Herr Herzog! Ich denke, das war auch ein sehr schönes Schlusswort. Vielen Dank für dieses Gespräch.