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I. Rationalitätsmodelle als Differenzkriterium: Die Entwicklung der Planungstheorie
Jürgen Joedickes Anfänge am IGmA sind – bezogen auf die Planungstheorie, geschichtlich betrachtet – tatsächlich ein Dazwischen. Seine Beschäftigung mit Entwurfs- und Planungstheorie hatte einen unvermittelten Anfang – er hatte vorher andere Themen – und ein ebenso plötzliches Ende. Die Hochschule für Gestaltung (HfG) Ulm und der Mathematiker und Designtheoretiker Horst Rittel stehen für die Kontexte, in die Joedicke eingewoben war. Es gab sicher auch einen gesellschaftlichen Boden, einen universitären Acker, den er bestellen konnte, in Stuttgart und in Berlin. Aber nehmen wir zunächst die HfG Ulm, auch wegen ihrer ideengeschichtlichen Bedeutung und der zeitlichen Prägnanz: Die HfG Ulm wurde 1968 geschlossen, das IGmA 1968 gegründet. Rittel war Lehrer an der HfG Ulm. Als er 1973 von der University of Berkeley an die Uni Stuttgart wechselte, hatte er seine Botschaft entschieden weiterentwickelt. Genau zu diesem Zeitpunkt und auch deshalb beendete Joedicke seine Beschäftigung mit der Planungstheorie.
Unabhängig von zeitlichen Daten und um eine grobe Orientierung zu geben, möchte ich – ohne dabei ungerecht zu sein – in der Abfolge HfG Ulm, Jürgen Joedicke, Horst Rittel eine theoriegeschichtliche Entwicklung rekonstruieren. Als Unterscheidungsmerkmal nehme ich die zugrundeliegenden Konzepte von Rationalität, die das Planen, Entwerfen, Design leiten:
Die Planungstheorie an der HfG Ulm lebte von der Spannung zwischen Gebrauchs- und darüber hinausgehender Wertorientierung. Sie entfernte sich von der Theorie der formerzeugenden Funktion. Sie schwankte zwischen Gewissheit über gute Form und Unsicherheit über Güteurteile, zwischen Verwissenschaftlichung und Ablehnung wissenschaftlicher Letztbegründungen. Die Planungstheorie an der HfG Ulm existierte im Streit zwischen szientifisch-instrumenteller und Werte-Rationalität.
Die Stuttgarter Planungstheorie, die Jürgen Joedicke mit dem IGmA zeitweise vertrat, fand die gesuchte Rationalität bei wissenschaftlichen Methoden als Garanten besserer Entwurfsentscheidungen. Nennen wir es Methodenrationalität.
Horst Rittel schließlich, als Kenner und Entwickler zahlreicher Methoden, war Gegner eines naiven Rationalitätsanspruchs. Die Einsicht in die Unmöglichkeit wissenschaftlichen Planens angesichts der inhärenten Sollprämissen jedes Entwerfens von Zukünften machte ihn zum Vertreter einer argumentativen Rationalität.
II. Zwischen Zweck- und Wertrationalität: Planungstheorie an der HfG Ulm
Die HfG Ulm war zunächst eine Sensation im konservativen Württemberg, ein geistiges Feuer. Entzündet hatten es Inge Scholl, Max Bill, Otl Aicher. Ich verzichte auf Geschichtsdetails. Was war da passiert? Vielleicht kann man großrahmig, im Sinne eines dialektischen Fortschritts der Geschichte sagen: nach dem Ersticken der Moderne im Faschismus und gegen die von den „1000 Jahren“ noch durchtränkte Muffigkeit der Adenauerzeit jetzt, 1953, der Neuanfang: politisch, entschieden demokratisch, frei, lebendig, modern, rational, klar, neu – reiner Tisch! In unserem thematischen Zusammenhang steht Ulm für einen fulminanten Theoriediskurs. Die HfG Ulm begann lange vor dem IGmA, Theorie als Teil ihrer Lehre und Praxis zu begreifen.
Die praktischen Designer in Ulm wie Otl Aicher, Hans Gugelot und Walter Zeischegg traten bewusst aus der Kunst und ohne die Kunst – das war der programmatische Unterschied zum Bauhaus – in die Gefilde der Wirklichkeit, „um sie [nicht] denen zu überlassen, die sie beherrschten“.1 Das war ein explizit politisches Statement. Das Design des Alltags lösten sie vom Kommerz (man hört die Frankfurter Schule). Design sollte vom Zweck her bestimmt sein. Allerdings sollten die Schönheit und der kulturelle Wert eine eigenständige Rolle spielen, oder prosaischer und genauer: Ästhetische Möglichkeiten – als eigene Grammatik – waren mit der Aufgabenstellung zusammenzudenken.2 Max Bill – Gründungsrektor der HfG Ulm, Künstler, Designer, Architekt – unterschied zwischen praktischem und geistigem Gebrauchswert. In der für Ulm typischen instabilen und daher dynamischen Balance mischte sich hier Zweckrationalität mit einer Werterationalität. Oder anders: Platter Funktionalismus positivistischer Couleur erfuhr eine entscheidende, sagen wir, „Überschreibung“ der Funktion durch Orientierungen wie Bedeutungstransport, Geltungsnutzen, Schönheit…
Das charakterisiert Ulms Basisstreit. Dem fügte sich ein weiterer an, der sowohl mit der zu sichernden Funktionalität, aber mehr noch mit der unhandlichen Komplexität der Aufgabe zusammenhing. Die wollte man systematisch kontrollieren. Schließlich ging es auch um Massenauflagen, um industrielle Fertigung, teure Maschinen, um wirtschaftliche Risiken. Ein schlechter Kaffeekocher kann eine Firma in den Konkurs treiben. In seinem berühmten Aufsatz über „Arabesken der Rationalität“ schreibt Gui Bonsiepe: „Das kalte Bad der Verwissenschaftlichung dürfte einem auf Technik und Industrie ausgerichteten Beruf nicht erspart bleiben.“3 Zwei Gründe führt er an: Wissenschaft verspricht Sicherheit, und wissenschaftliche Argumentation verstärkt die Akzeptanz. Ich rede hier besonders über die Abteilung Produktgestaltung, neben der es noch Bauen, Information, Visuelle Kommunikation und Film gab. Im Studienverlaufsplan gab es vorgeschaltet das berühmte erste Jahr, den gemeinsamen Grundkurs, in dem wesentlich „die Fähigkeit zu strukturellem Denken bei der Lösung von Aufgaben“4 vermittelt wurde, so Gerhard Curdes, einer der vielen später bekannten Studenten.
Es gab auch für die HfG Ulm einen Kontext, der bereits hochgekocht war. Es gab einen größeren Theorierahmen, der nicht nur, aber auch die Planungs- und Designtheorie an der HfG und die folgenden Diskurse beeinflusste: In den Nachkriegsjahren herrschte eine Vorstellung von Planung vor, die bei beliebig vorgegebenen Zielen den besten Einsatz von Mitteln leistet. Diese Webersche „Zweck-Mittel-Ratio“, diese Horkheimersche „instrumentelle Vernunft“ traf auf viele gesellschaftliche Bereiche zu wie Wirtschaft, Militär, Verkehr, Wohnungsversorgung, Atomkrafteinsatz und so weiter. Sie schwappte als dominantes Muster auch in die Lebenswelt über. Jede Ökonomie, jede Technik folgt einer solchen Ratio: minimierter Mitteleinsatz bei maximaler Leistung – und: Das Vorhandensein von Mitteln und Techniken rechtfertigt jenseits von Zwecken, Zielen oder Verwertung ihren Einsatz und führt „Sachzwang“-artig zu Entscheidungen. Im Kern ein technokratisches Modell.
In den USA übernahmen Planer, einer solchen Denkart folgend, die Methoden des Operation Research. Im Krieg entwickelt – Frontversorgung (Granaten, Gulasch und so weiter) –, von Unternehmen genutzt, in der Management Science gelehrt, wurden sie für die Planung aufbereitet. Geistige Väter waren Leonard Arnof, Russell L. Ackoff und C. West Churchman. Das Ur-Muster ihrer Theorie, ein teils bis auf Formeln geronnenes Phasenschema eines Problemlösungs-Prozesses sah so aus (nach Ackoff 1962, XI):5 (1) Formulierung des Problems; (2) Information; (3) Aufstellen eines Modells mit definierten Zielgrößen sowie veränderbaren und nicht veränderbaren Variablen; (4) Entwickeln – „Ableiten“ – von alternativen Lösungen; (5) Auswahl durch Bewertung; (5) Optimierung; (6) Test, Kontrolle; (7) Ausführung.
Für Ackoff, Arnof, Churchman und andere kulminierte Entscheidungstheorie in Formeln. Systemtheorie und Kybernetik wurden entwickelt, um Strukturen, Sprachen, Denkformen zu finden, die die Grenzen der Disziplinen überschritten und sie durch eben diese neuen Sprachen und Muster aufeinander abbildbar machten. Dieses wissenschaftlich gedachte Modell mit seinen akkuraten Phasen war der Referenzrahmen der sich entwickelnden Design- und Planungsmethodik. Hier ließen sich die Theoretiker der HfG Ulm inspirieren, beispielsweise Tomás Maldonado, der auch Horst Rittel nach Ulm holte und dieser selbst, der das alles beherrschte und in allen Facetten lehrte, mit dem Ziel, durch systematisches Vorgehen zu verlässlicheren Lösungen zu kommen.
Damit haben wir die Eckpunkte skizziert, in denen und gegen die sich der Diskurs an der HfG Ulm und danach entwickelte. Instrumentelle Rationalität – Max Weber, kritisch Max Horkheimer, später Jürgen Habermas –, szientifische Grenzgänge in den USA, technokratische Entscheidungsmuster.
III. Ästhetik als unabhängige Koordinate: Horst Rittel an der HfG Ulm
Charakteristisch für die HfG Ulm war ihre Streitkultur: Die Designer und die Wissenschaftler stritten und ergänzten sich. Witzigerweise erwarteten gerade die Designer von den Wissenschaftlern eine finale Rechtfertigung ihres Tuns und damit der Ergebnisse. Genau das hatte ihnen Horst Rittel schon in Ulm verweigert. Der Wissenschaftler Rittel, der das Tun der Designer zum Gegenstand seiner wissenschaftlichen Betrachtung machte, stellte vielmehr fest, dass Ästhetik eine unabhängige Koordinate sei, die nicht durch funktionale Anforderungsprofile hergeleitet werden könne.6 Vielmehr, so Rittel: „Die Aufgaben sind in einem Spannungsfeld divergierender Interessen zu lösen.“7 Das heißt eben doch: Auseinandersetzung, Streit, soziale Produktion der Lösung. Und nochmal: Die verschiedenen Interessenten haben „widerstreitende Nutzenvorstellungen“8. Rittel hat sich schlicht geweigert, dem Erwartungsdruck einiger Ulmer Designer nachzugeben, ihnen das Gütezeichen „‘wissenschaftlich geprüft‘ zu erteilen‘“9. Er unterschied das Lehrbare vom Unlehrbaren, zu dem er Haltungen, Standpunkte zählte. Gleichzeitig haben er und Tomás Maldonado alles Lehrbare, das heißt Sachwissen, Fertigkeiten und Methoden präsentiert, das in irgendeiner Weise Hilfestellung, Fundamente, gute Argumente für die Lösungsentwicklung geben konnte, ob in technischer Physik, Farbenlehre, Wahrnehmungstheorie, Ergonomie, Topologie, Operationsanalyse, Kombinatorik, Logik, Informationstheorie und vielem anderem mehr. Auch das hatte Gewicht in der Ausbildung an der HfG Ulm. In der Spannung zwischen Wissenschaft und Design gab es „einen zähneknirschenden Konsens“: „Design ist bemüht um die Kontrolle seiner Konsequenzen“, um „informiertes Urteilen“, befasst mit „Erscheinungsbild, […] Herstellung, Handhabung, Wahrnehmung, […] ökonomischen, sozialen, kulturellen Effekten.“10 Auf „kritische Vorgehensbewußtheit“ konnte man sich einigen.
Die HfG Ulm, die grandiose, experimentierfreudige, einflussreichste Design-Hochschule der Welt nach dem Bauhaus – sie war eine wunderbare Flamme, die zu anarchisch brannte im geordneten Ländle. Sie wurde 1968 vom damaligen Ministerpräsidenten Baden-Württembergs Hans Filbinger, dem „furchtbaren Richter“,11 gelöscht – „liquidiert“, so sein Sprachgebrauch –, vorgeblich aus finanziellem Anlass. Eigentlicher Grund war die streitbar-kreative Organisation der HfG Ulm, der dadurch ständige Wechsel der Lehrpläne und die Radikalität ihrer Fragestellungen. So verlor sie Verbündete, auch in der Stiftungsorganisation, die sie trug. Von ihren circa 640 Studenten wurden ca. 350 Professoren in aller Welt, die die Botschaft weitertrugen.
Bevor ich kurz Jürgen Joedickes Rolle charakterisiere, noch zwei andere Gravitationsfelder, in denen sich sein Beitrag zur Planungstheorie bewegt:
Zum einen Max Bense: Natürlich passte der Ansatz des Philosophen und Semiotikers, die Erzeugung und Betrachtung von Kunstwerken mit Informationstheorie, mit Redundanz und Information zusammenzubringen, in eine so wissenschaftlich-technisch orientierte Entwurfswelt. Genauso wie der Versuch, Kunstwerke und -produkte im Verhältnis von Ordnung und Komplexität zu verorten und dabei bis an die Grenze des Formalisierbaren zu gehen. Es ging um eine algorithmische Fassung, computergenerierte Kunst entstand. Für die Entwerfer war die triadische Zeichenrelation mit der nun transparenteren Zuweisung von Bedeutung zu den Zeichen, die sie schufen – im Zweifel waren damit auch Gebäude gemeint –, die Eröffnung einer diskutierbaren Dimension. Man hatte eine neue Sprache gefunden. Bense lehrte das in Ulm und anschließend in Stuttgart – und „man“ ging hin.
Zum zweiten: Sicher gehört zu dem Kontext, in dem Jürgen Joedickes Auseinandersetzung mit der Planungstheorie begann, der breitere, der politische – der Diskurs der ’68er, der Studentenbewegung mit ihren verschiedenen Dimensionen, und der engere Diskurs, der an den Architekturfakultäten in Deutschland stattfand. In diesem Zusammenhang artikulierte sich eine Unzufriedenheit mit der Begrenztheit eingeschliffener Architekturlehre, die oft nur vom künstlerischen Glanz ihrer Lehrer lebte. Wo blieben Disziplinen wie Soziologie, Psychologie, Ökonomie (in Ulm selbstverständlich), wo Strategien der Beteiligung? So begann auch das Objekt Stadt sich aus seiner unterkomplexen Behandlung durch Le Corbusier et alii zu lösen. Christopher Alexanders „A City is not a Tree“12 – zuerst 1965 erschienen – war interessanter. Die Verwissenschaftlichung des Planungsprozesses hatte den Vorteil, Licht in viele dunkle Ecken zu bringen, die vorher eher mystisch behandelt wurden. Auch in Stuttgart waren die Aktivitäten einiger Studenten eindeutig von einer Hoffnung, von einer Erwartung an die Wissenschaft beflügelt. Sie trugen sie an Institute wie das Städtebauinstitut, das Schulbauinstitut und eben auch an das entstehende IGMA.
IV. Planung als „Rechenexempel“: Planungstheorie am IGmA und bei Jürgen Joedicke
Just als die HfG Ulm 1968 schließen musste, wurde Jürgen Joedicke an der Universität Stuttgart Gründungsdirektor des IGmA. Ich beschränke mich hier auf ein Kondensat seines Beitrags zur Planungstheorie:
1968 erschien ein Vortrag Joedickes, in dem er die Beschäftigung mit Planungstheorie und -methodik begründet – und zwar funktional.13 Architekturtheorie hat nach Joedicke drei Funktionen: (1) die fundierende, z.B. bei Raumtheorie, Raum zu definieren; (2) die kritische, z.B. vorhandene Raumtheorien kritisch zu untersuchen; (3) die konstruktive, z.B. eine (neue) Raumtheorie zu entwickeln. Dass man für die Praxis eine Theorie brauche, begründet Joedicke dort folgendermaßen und ein Jahr später sinngleich in seiner Antrittsvorlesung „Zur Formalisierung des Planungsprozesses“:14 (1) Wegen der Komplexität kommender Planungsaufgaben ist Theorie nötig; (2) komplexe Aufgaben erfordern Teams aus Spezialisten; (3) um sich im Team zu verständigen, ist Sprache, sind Begriffe notwendig; (4) um gemeinsam vorzugehen, braucht man ein methodisches Gerüst. Daher sind Planungstheorie und Planungsmethodik zwei wichtige Themen der Architekturtheorie. Das ist die Kernlogik der Begründung für seine Entscheidung, die Planungstheorie für einige Zeit zum (Haupt-)Thema am sich neu etablierenden IGmA zu machen.
Aus Joedickes Antrittsvorlesung greife ich noch einige Kernsätze heraus: (1) Formalisierung schließt die Anwendung wissenschaftlicher Methoden ein;15 (2) Komplexität heißt mehr als nur technische und ästhetische Ziele zu haben, mitgemeint sind gesellschaftliche und politische Fragen, auf die Joedicke allerdings nicht wieder zurückkommt;16 (3) anstelle intuitiver spontaner Urteile sollen „möglichst quantifizierbare Aussagen“ stehen, was „eine Überführung qualitativer Kriterien in quantitative“17 erfordere; (4) Merkmale „müssen messbar sein“18; Planung als „Rechenexempel“, das nicht „Kreativität [ist, sondern] im Gegenteil essentieller Bestandteil eines formalisierten Verfahrens“19. All das bedeutet eine tiefgreifende Veränderung des Berufsbildes: Architekten sind „Partner der an der Umweltplanung beteiligten Spezialisten“20. In diesem letzten Punkt trifft sich Joedicke mit den gleichzeitigen Reformbemühungen einiger Studenten und Mittelbauer an der Stuttgarter Fakultät.
Interpretativ zusammenfassend möchte ich festhalten: Joedickes Antrittsvorlesung von 1969 ist eine Charakterisierung der Planungstheorie, eine Feststellung ihrer Absichten, Nutzen und Grenzen. Sie ist wesentlich an wissenschaftlichen Methoden orientiert. Joedicke entwickelt keine eigene Theorie. Die politische Dimension bleibt – trotz des im Zentrum der Aufmerksamkeit stehenden Agierens der sogenannten ’68er – außen vor.
Gleich nach Gründung des IGmA 1968 fanden Seminare auf dem Gebiet der Planungstheorie statt, teils von Studenten initiiert, von Assistenten geleitet. Ich persönlich habe Joedickes gleichzeitige Vorlesungen über Hugo Häring am besten in Erinnerung. Als Prüfungsleistung entstanden Seminarberichte und bis 1973 wurden vom IGmA neun Arbeitsberichte zur Planungsmethodik im Verlag Karl Krämer herausgegeben. Die Berichte dokumentieren eine teils akribische Methodenausarbeitung, teils aber auch – speziell in den Bänden zur Partizipation –21 eine Öffnung der Perspektive auf eine Rolle im politischen Machtgefüge. Joedicke selbst mischte sich nach den zwei erwähnten Anfangsaufsätzen nicht mehr ein in den Diskurs, der gleichzeitig und unabhängig von ihm von der Zeitschrift ARCH+ und anderen besetzt wurde. Er sagte, nachdem Horst Rittel 1973 nach Stuttgart berufen worden war, sinngemäß, Planungs- und Entwurfsmethoden und -theorien seien nicht sein Gebiet. Darin sei Rittel führend. Das Thema war am IGmA richtig aufgehoben, traf aber nicht den Kern von Joedickes Interesse. Er wandte sich in der Folge wieder einer biographisch und historisch orientierten Auseinandersetzung mit der Architektur der Moderne zu.
V. Auf dem Weg zu den „wicked problems“: Horst Rittel in Berkeley und Stuttgart
Gleichzeitig mit Joedickes Antrittsvorlesung gab es Theorieereignisse, die weiter reichende Folgen hatten. Jürgen Habermas sei erwähnt, aber hier – aus Zeitgründen – nicht gewürdigt. Rittel hatte 1969 (also gleichzeitig mit Joedickes Antrittsvorlesung) in Boston einen Vortag mit dem Titel „Dilemmas in a General Theory of Planning“ gehalten. Darin schlug er, angesichts des Versagens eines technokratischen Vorgehens bei Planungsprojekten in den USA, stattdessen fortlaufende Argumentation im Verlauf der Lösungsentwicklung als Methode vor. Schon 1963 hatte Rittel in einer Schrift zur politischen Bedeutung der Entscheidungstheorie Aushandlungsprozesse und Debatten gefordert.22 Rittel hatte durch genaues Hinschauen erkannt, was an der HfG Ulm schon 1961 formulierte Position war. Um sie zentrierte er ab 1963 an der University of Berkeley und ab 1973 an der Universität Stuttgart seine Lehre.
Was ist, in Kürze, der Kern von Horst Rittels Botschaft? (1) Beim Planen versagt das wissenschaftlich-technische Rationalitätskonzept – und zwar grundsätzlich. Damit geht Rittel über die „bounded“, die beschränkte Rationalität von Herbert. S. Simons mit dessen „satisficing solutions“ hinaus – und ist weit entfernt von den „optimalen“ Lösungen, die Joedicke als Ziel formulierte. (2) Wissenschaft sagt nicht, was gesollt werden soll. Sie bleibt im Hilfsmodus, ist eingelagert als Lieferant von Fakten und Modellen realer und vorgestellter Welten. (3) Planen geschieht im sozialen Kontext. (4) Angesichts konfligierender Wertsysteme verläuft Planung wesentlich argumentativ. (5) Wegen des umstrittenen Handelns im sozialen Kontext und der in jeder Entscheidung verborgenen Sollprämissen hat Planung grundsätzlich politischen Charakter.23
Im Einzelnen: Zunächst widerlegte Rittel die Annahmen der oben erwähnten klassischen Methodenmodelle von Russell L. Ackoff und anderen. Für Rittel gilt: Der Lösungsraum ist nicht begrenzt; man hat nie vollständige Information; es gibt keine endgültigen einschränkenden Bedingungen; es gibt keine eindeutigen Güte-Maßstäbe, kein „objektives“ Urteil. Sodann entzaubert Rittel das Rationalitätskonzept, das allem Planen zugrunde liegt. Es besteht darin zu denken vor dem Handeln und dabei die Folgen des erwogenen Handelns vorwegzunehmen, vollständig, einschließlich aller Nach- und Nebeneffekte. Das ist zum Scheitern verurteilt. Rittel entlarvt das Rationalitätskonzept, indem er dessen logische Paradoxa aufzeigt. Beispielhaft sei eines von vieren genannt: Wer über die Konsequenzen einer erwogenen Handlung nachdenkt, stößt auf Konsequenzen von Konsequenzen und wiederum deren mögliche Konsequenzen. Unendliche Wirkungsketten tun sich auf. Unendlich heißt, dass ein Ende rationalen Verhaltens im oben genannten normativen Sinn unmöglich ist. Mit drei weiteren solcher Paradoxa erschütterte Rittel die Fundamente des Glaubens, sich im praktischen Kontext planerisch rational verhalten zu können. Was folgte daraus? Zunächst keine Letztgarantie für „richtige“ Planung – ein Desaster! Zumindest ein Verlust von Naivität. Sollte man, als Ratio-Verpflichteter, aufgeben?
Rittel animiert zur bewussten trotzigen Koexistenz mit den Paradoxa, eine fast existentialphilosophische Haltung, diese nämlich: bei unlösbarer Letztfrage trotzdem Handeln. Im oben genannten Aufsatz „Dilemmas in a General Theory of Planning“ führt er das Konzept der „wicked problems“, der sogenannten bösartigen Probleme ein. Die Probleme der Operation Research, die Probleme der Wissenschaft überhaupt, aber auch viele Probleme der Ingenieure sind – und zwar grundsätzlich – anderer Art als diejenigen von Planern, die in sozialen Umgebungen arbeiten. Inwiefern? Rittel charakterisiert zehn Merkmale bösartiger Probleme, ich nenne sieben:24 (1) Es gibt keine definitive Formulierung für ein bösartiges Problem. Information wächst ständig im Verlauf des Lösungsprozesses und ändert so die Problemsicht. (2) Bösartige Probleme haben keine „Stopp-Regel“. (3) Lösungen für bösartige Probleme sind nicht richtig oder falsch, sondern gut oder schlecht. (4) Bösartige Probleme haben keine erschöpfend beschreibbare Menge potentieller Lösungen. (5) Bösartige Probleme sind wesentlich einzigartig. (6) Jedes bösartige Problem kann als Symptom eines anderen Problems betrachtet werden. (7) Die Existenz eines bösartigen Problems kann auf zahlreiche Arten erklärt werden. Die Wahl der Erklärung bestimmt die Art der Problemlösung.
Zudem führt Rittel ein epistemologisches Argument an: Wissenschaftler bemühen sich um allgemeingültiges faktisches und explanatorisches Wissen über die Welt, während Planer/Entwerfer/Designer je spezifisches Wissen darüber erzeugen, wie Objekte der Zukunft aussehen sollen und auf welche Weise sie zu realisieren sind. Es geht bei ihnen also um deontisches und instrumentelles Wissen. Keine Wissenschaft sagt jemals, wie eine Villa Rotonda, eine Staatsgalerie, eine Kulturmeile, eine Stadt der Zukunft aussehen soll. Diese fünf genannten Wissensarten sind Teil von Rittels Epistemologie für Planer. Sie sind ausreichend, vollständig und wechselseitig exklusiv. Rittel entwickelt auf dieser Basis Prinzipien einer neuen Generation der Planung.25 Zu ihnen gehören:
Urteilsbewusstheit, Reflexion deontischer Prämissen: „Soll-Aussagen” sind zwar begründbar, aber nicht wissenschaftlich ableitbar. Sie gehen zurück auf Prämissen, die dem Wertsystem des Planenden, einer ethischen, ästhetischen oder politischen Haltung entspringen. Sie sind oft verborgen, sollen aber transparent und kommunizierbar gemacht werden.
„Epistemische Freiheit“: Es gibt keine logischen Regeln oder epistemologischen Vorgaben, keine „Algorithmen“, die den Planungsprozess steuern. Es bleibt dem Urteil des Planers überlassen, wie er vorgeht. Nichts muss sein oder bleiben, wie es ist oder zu sein scheint, es gibt keine Grenzen des Denkbaren. Da liegt die Freiheit. Es besteht ein notorischer Mangel am zureichenden Grund – und keine omnipotente Autorität, die ihn liefert.
Der „Sachzwang“ ist der Versuch, Notwendigkeit und Freiheit des Urteilens aus Entscheidungsprozessen hinauszuzaubern. „Sachzwänge” folgen einer logisch unzulässigen Schlussweise. Aus Fakten folgt kein Soll. Welche einschränkenden Bedingungen für eine Planung jemand anerkennt „hängt von der Phantasie, dem Mut, der Zuversicht und der Respektlosigkeit des Akteurs ab”26.
„Symmetrie der Ignoranz“: Die nötige Expertise, die man zum Lösen von Planungsproblemen braucht, ist in der Regel auf viele Köpfe verteilt. Wer hat das beste Wissen darüber, welche Lösungen für wen welche Vor- und Nachteile haben? Niemand weiß, ob ein anderer nicht besser weiß, was gesollt werden soll.
Beteiligung: Rittel gründet die politische Forderung nach Beteiligung auf das epistemologische Argument. Der Ausschluss von Beitragenden kann den Ausschluss potentiell nützlichen Wissens, auch und gerade von Sollwissen, bedeuten. Es ist eine schlüssige Reaktion auf die „Symmetrie der Ignoranz”.
Zweifel ist ein respektables und kreatives Konzept. Die Dynamik fortschreitenden Denkens baut wesentlich auf dem Bezweifeln des bislang als gültig Angenommenen. Jeder Zweifel ist ein Angriff auf Behauptetes. Er ist der „Vater“ des kritischen Diskurses, Vater kreativen Querdenkens. Frühe Konfliktstimulierung spart späten Ärger.
Und: In allen (auch Mikro-)Entscheidungen sind deontische Prämissen verborgen. In ihnen zeigt sich jeweils die Verschiedenheit der individuellen Wertsysteme. Sie sind nie ohne sozialen Kontext. Das birgt Konfliktpotential wegen des gleichzeitigen Zwangs zu handeln. Das ist definitiv politisch.
Vor diesem Hintergrund werfen wir abschließend einen Blick zurück auf den Beitrag Jürgen Joedickes zur Planungstheorie: Seine Botschaft ist in der Geschichte begrenzter. Ihre Bedeutung möchte ich so zusammenfassen: (1) Joedicke hat erkannt, dass die Theoretisierung, das heißt die wissenschaftliche Betrachtung jenes Prozesses, in dem Pläne für Gebäude und Stadträume entstehen, sowie die methodischen Schritte in diesem Prozess, Gegenstand einer Architekturtheorie sind und damit in den Zuständigkeitsbereich des IGmA fallen. (2) Joedicke hat die Thematik der Planungstheorie, ihre Einordnung, ihren Stand, ihren Nutzen für Lehre und Praxis wahrgenommen und rezipiert. Er hat selbst keine Theorie und kein Methodenrepertoire entwickelt. (3) Joedicke nahm das Feld der Planungstheorie unter seine Ägide, förderte es, nahm auf Augenhöhe am Diskurs teil, präsentierte es der Öffentlichkeit, verankerte es institutionell – als Territorium des IGMA. So – mit diesen Verdiensten – kann Joedicke als gewichtiger Akteur der Stuttgarter Planungstheorie der 1960er und 1970er bezeichnet werden.
Wolf Reuter war Mitglied der Studiengruppe für Systemforschung Heidelberg und ist seit 1998 außerplanmäßiger Professor für Entwurfs-und Planungstheorien und -methoden an der Universität Stuttgart.
1
Otl Aicher: „Bauhaus und Ulm“, in: Herbert Lindinger (Hg.): Hochschule für Gestaltung Ulm: die Moral der Gegenstände. Berlin: Ernst & Sohn, 1987, S. 124.
2
Vgl. ebd., S. 127.
3
Gui Bonsiepe: „Arabesken der Rationalität“, in: ulm. Zeitschrift der Hochschule für Gestaltung 19/20 (1967), S. 9.
4
Gerhard Curdes: „Die Abteilung Bauen an der HfG Ulm – eine Reflexion zur Entwicklung, Lehre, Programmatik“, in: Ralph Johannes (Hg.): Entwerfen II. Architektenausbildung in Europa seit Mitte des 20. Jahrhunderts bis zum „Bologna-Prozess“. Hamburg: Junius, 2018, S. 528.
5
Nach Russell L. Ackoff: Scientific Method. New York: John Wiley, 1962.
6
Vgl. Horst W. Rittel: „Zu den Arbeitshypothesen der Hochschule für Gestaltung in Ulm, in: Werk 6/1961 (Bd. 48), S. 283.
7
Ebd., S. 282.
8
Ebd., S. 283.
9
Horst W. Rittel: „Das Erbe der HfG?“, in: Lindinger, a. a. O., S. 119.
10
Ebd.
11
Filbinger war Mitglied der NSDAP und fällte, wie der Dramatiker Rolf Hochhut 1978 aufdeckte, als Marinerichter zwischen 1943 und 1945 mindestens vier Todesurteile.
12
Christopher Alexander: „A City is not a Tree“, in: Architectural Forum 1/1965 (Bd. 122), S. 58–62.
13
Vgl. Jürgen Joedicke: „Funktionen der Architekturtheorie“, in: Bauen + Wohnen 7/1968 (Bd. 22), S. 270–272.
14
Gedruckt als Jürgen Joedicke: „Zur Formalisierung des Planungsprozesses“, in: Institut für Grundlagen der Modernen Architektur (Hg.): Bewertungsprobleme in der Bauplanung (=Arbeitsberichte zur Planungsmethodik 1). Stuttgart: Karl Krämer, 1969, S. 9–26.
15
Vgl. ebd., S. 9.
16
Vgl. ebd., S. 13.
17
Ebd., S. 18.
18
Ebd., S. 19.
19
Ebd., S. 21.
20
Ebd., S. 25.
21
Klaus Britsch: Nutzerbeteiligung an Planungsprozessen (=Arbeitsberichte zur Planungsmethodik 6). Stuttgart: Karl Krämer 1972 und Peter Dietze: Nutzerbeteiligung durch Nutzerbefragung? (=Arbeitsberichte zur Planungsmethodik 7). Stuttgart: Karl Krämer, 1973.
22
Horst W. Rittel: Überlegungen zur wissenschaftlichen und politischen Bedeutung der Entscheidungstheorie (=Berichte der Studiengruppe für Systemforschung 24). Heidelberg: Studiengruppe für Systemforschung, 1963.
23
Vgl. Horst W. Rittel: „On the Planning Crisis: Systems Analysis of the ’First and Second Generation‘, in: Bedriftsökonomen 8/1972, S. 390–396.
24
Vgl. Horst W. Rittel: „Dilemmas in a General Theory of Planning“, in: Policy Sciences 4/1973 (Bd. 2), S. 155–169.
25
Vgl. Horst W. Rittel 1972, a. a. O.
26
Horst W. Rittel: „Sachzwänge – Ausreden für Entscheidungsmüde“ (zuerst 1976), in: Wolf Reuter (Hg.): Planen, Entwerfen, Design: ausgewählte Schriften zu Theorie und Methodik. Stuttgart: Kohlhammer, 1992, S. 279.