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Zur Gründungsgeschichte des IGmA, Universität Stuttgart 1967/68. Von der „Theorie und Geschichte” der modernen Architektur zu deren „Grundlagen”

CHRISTIAN VÖHRINGER

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Abstract

Verweise

Index

I. Bildungsexpansion und Verwissenschaftlichung der Planung: zeitgeschichtliche Kontexte der Institutsgründung

II. Die Vorgeschichte, Stichwort I: Antrag beim Wissenschaftsrat

III. Die Vorgeschichte, Stichwort II: Ausbau der TH Stuttgart

IV. Stichwort III: „Umtausch der Institute“ und Entstehung der Denomination

V. Die Institutsgründung: Berufung Joedickes und der Zusatz „und Entwerfen“

Christian Vöhringer zeichnet die Gründungsgeschichte des Instituts für Grundlagen moderner Architektur und Entwerfen der Universität Stuttgart nach. Er stützt sich dabei auf intensive Archivrecherchen und berücksichtigt größere hochschulpolitische Bedingungen ebenso wie innerdisziplinäre Diskussionen und persönliche Beziehungsnetzwerke.

Dieser Text basiert auf einem Vortrag bei der Konferenz IGmAde: 50+ Jahre Architektur, Theorie und Poiesis an der Universität Stuttgart, November 2018. Er erschien zum ersten Mal auf dieser Website im Juni 2025 als Teil der Veröffentlichung Joedicke100 – Jürgen Joedicke und das IGmA (I): 1967–1977.


Titelbild:
Karteikarten zur Diathek des IGmA (Foto: Frank Wiatrowski).


Redaktion:
Leo Herrmann, Sandra Oehy

© IGmA/BBSR

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Joedicke100 – Jürgen Joedicke und das IGmA (I): 1967–1977

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Zur Gründungsgeschichte des IGmA, Universität Stuttgart 1967/68. Von der „Theorie und Geschichte” der modernen Architektur zu deren „Grundlagen”

Christian Vöhringer

I. Bildungsexpansion und Verwissenschaftlichung der Planung: zeitgeschichtliche Kontexte der Institutsgründung

Die 1960er Jahre waren nicht nur die Zeit der breit diskutierten Bildungskatastrophe, die zu erkennen es des „Sputnikschocks“ von 1957 eigentlich nicht bedurft hätte; sie waren auch eine Periode der weiteren Ausdifferenzierung der Forschungs- und Bildungslandschaft, die gleichzeitig einen Zuwachs spezialisierter Institutionen, Forschungseinrichtungen und Ausbildungsstätten bedeutete.1 Den Architekturfakultäten und Bauabteilungen an Hochschulen kam hier eine früh erkannte, mindestens doppelte Bedeutung zu, weil sie einen akuten Architektenmangel in allen Bereichen zu beheben hatten und außerdem durch neuartige Entwurfsmethoden, Planungstechniken und innovative Bauverfahren für schnelleres, kostengünstigeres und nicht zuletzt besseres Bauen sorgen sollten, das auf wissenschaftlicher Begründung beruhte. Darüber hinaus wurde die Bauindustrie auch im Hinblick auf die Konjunkturpolitik unter mehreren nationalen und internationalen Aspekten als Strukturpolitik gefördert.

Die Gründung des „Instituts für Grundlagen der modernen Architektur“ (IGmA),2 um die es im Folgenden geht, ist also einerseits eine unter vielen auf dem Weg der fortschreitenden Ausdifferenzierung der wissenschaftlichen Hochschulen. Aber andererseits war sie der speziellen Denomination nach keine Spezialisierung, welche früh in den 1950er Jahren schon als notwendiges Spezialgebiet erkannt worden wäre, wozu unter anderen Schulbauinstitute zu zählen sind.3 Aber wie diesen kam ihr in einem bestimmten historischen Moment eine tragende Rolle für den weiteren Ausbau der Bildungslandschaft im Allgemeinen und zur Stärkung der wissenschaftlichen Reflexion in Architektur und Bauingenieurwesen im Besonderen zu. Zumindest rückblickend betrachtet steht sie an einer Zeitmarke, die man für eine Epochenschwelle halten kann: 1968 – mit internationalen Studentenunruhen, beginnenden, aber auch abbrechenden Aufbrüchen, wie der nicht nur lokal bedeutenden Schließung der Hochschule für Gestaltung (HfG) in Ulm. In dieser Perspektive hat sich in einem Aufsatz 2017 auch Jesko Fezer der IGmA-Gründung zugewandt und diese im Kontext der „Vergessenen Architekturschulen“ verortet, wozu dort unter anderem auch eine Würdigung der Stuttgarter Anfänge der Architekturzeitschrift ARCH+ gehört.4 Die Leuchtkraft dieser Jahreszahl scheint allerdings eine Sichtung und Würdigung der institutionellen Vorgeschichte behindert zu haben, die viele Jahre vorher begann und, wie zu zeigen sein wird, auch weitere Theorieaspekte und Personenbezüge besaß, die nach der Gründung etwas in den Hintergrund traten.

Geschichte und Theorie der modernen Architektur waren nicht nur in Stuttgart Themenfelder ohne eigenen Lehrstuhl, geschweige denn ein eigenes Institut, sondern wurden von anderen Lehrstühlen des Entwerfens oder der Architekturgeschichte mit abgedeckt. So beispielsweise an Curt Siegels außerordentlichem Lehrstuhl für Statik und Baukonstruktion III, an dem Jürgen Joedicke über viele Jahre „Konstruktion und Form im Neuen Bauen“ lehrte.5 Vom besonderen Schwerpunkt auf Konstruktion als theoretischem Unterbau für Architektur zeugt bis heute eine Diathek, von der es 1960 in einem Brief Curt Siegels an das Ministerium mit der Bitte um zusätzliche finanzielle Mittel heißt: „Diese Sammlung stellt eine umfassende Dokumentation der vom Konstruktiven herrührenden Gestaltungselemente dar. Sie ist für mich Grundlage der Lehre und Forschung.“6 Ähnlich dem Entwerfen beigeordnet war die Theorie auch am Lehrstuhl für Entwerfen VI von Oswald Mathias Ungers an der TU Berlin, wo 1967 der erste Kongress für Architekturtheorie in Deutschland veranstaltet wurde.7 Wie kam es dann also zur Gründung des IGmA an der Universität Stuttgart 1967 – und warum unter der Bezeichnung „Grundlagen“ der modernen Architektur, statt der zuvor verwendeten und inhaltlich weitaus zutreffenderen Benennung „Geschichte und Theorie der modernen Architektur“?

Vermutlich hat jede akademische Gründung ihre eigene, zuweilen banale, gelegentlich aber auch spektakuläre oder an Pointen reiche Geschichte, und mit einem halben Jahrhundert Abstand sind wir gut beraten, diese zumindest doppelt zu lesen: Einerseits als Kapitel der universitären Institutionengeschichte, die nach dem Ende des Faschismus auf vielen Gebieten noch mit dessen Folgen kämpfte und neue Orientierungen suchte, andererseits als Kapitel der intellektuellen Biographie Jürgen Joedickes, respektive seines Personennetzwerks, mit und in dem sich diese Gründung erst entfalten konnte. Natürlich geht es mit dem hier gewählten Zeitfenster 1958–67 nicht darum, den Feierlichkeiten zum 50-Jahr-Jubiläum im November 2018 ihren Grund im sagenumwobenen und seit einigen Jahrzehnten immer wieder neugedeuteten Jahr der Studentenrevolten 1968 zu bestreiten, mit dem sich das Institut in eine ganze Reihe von Anfängen stellt. Wohl aber kann gefragt werden, warum es bei der von vielen Seiten seit spätestens 1962 gewünschten, geforderten und später auch beschlossenen Professur für „Geschichte und Theorie der modernen Architektur“ zu mehrjährigen Verzögerungen kam. Und wieso wurde das Ordinariat ausgerechnet in den Jahren der ersten Nachkriegsrezession 1966/67 ministerial beschlossen und durch den Landtag von Baden-Württemberg bewilligt?

Den archivalischen Ausgangspunkt dieser Vorgeschichte des IGmA bildet der Nachlass seines Gründers Jürgen Joedicke. Seit 2017 befinden sich Tagebücher, Korrespondenz, Vorlesungsmanuskripte, Diasammlung, Wettbewerbs- und Bauprojektunterlagen sowie die Handbibliothek und vieles mehr im Besitz des Universitätsarchivs Stuttgart, verzeichnet unter der Signatur SN 84.8 Parallel zur Überlassung dieses über die Universitätsgeschichte hinaus für die Architekturgeschichte bedeutenden Bestandes hat die Wüstenrot Stiftung ein mehrjähriges Projekt für Erschließung und Beforschung gefördert, welches am Institut für Architekturgeschichte der Universität Stuttgart in Kooperation mit dem IGmA durchgeführt wurde. Einer der ersten Schritte der Erschließung war die Sichtung und Verzeichnung der 31 Tagebücher Jürgen Joedickes, von ihm selbst nummeriert und ungefähr Mitte der 1990er Jahre teilweise nachträglich mit Daten versehen. Vor allem die Hefte in SN 84/10 vom 16. April 1959 bis in die 1960er Jahre legen Zeugnis von den fraglichen Umständen ab, weil Joedicke sie zur Reflexion von Vorgängen an der Universität, in Verlagen, bei Wettbewerben und über seine etwaigen beruflichen Optionen als Architekt, Publizist oder Hochschullehrer nutzte.9 Immerhin war Joedicke parallel zur Institutsgründung am Ideenwettbewerb um die Olympia-Anlagen in München 1972 mit „Architekturtheoretische(n) Überlegungen zum Entwurf“10 beteiligt, mit Behnisch und Partnern, Heinz Isler und anderen. Bekanntlich war das Projekt erfolgreich, erfuhr aber ebenfalls 1968 einige personelle Umbesetzungen, während die Machbarkeit der Dachkonstruktion in kontroversen Auseinandersetzungen noch geprüft wurde.11

Es ist ein glücklicher Umstand, dass die 50-Jahr-Feier zur Gründung des IGmA 2018 für eine erste, öffentliche Befragung ausgewählter Archivbestände Anlass gab. Und natürlich stand bei der Vorbereitung zu dieser Jubiläums-Veranstaltung wie vermutlich bereits früher die Frage im Raum, welches die eigentliche Institutsgründungsurkunde sei und wo sie sich befinde. Oder anders gefragt: Auf welchen Verwaltungsakt geht eine Institutsgründung zurück? Recht schnell wurde deutlich, dass auch in anderen Archivbeständen zu suchen sein würde. Möglicherweise werden sich also auch künftig noch weitere Bemerkungen und Hinweise auf weitere Bestände, Sammlungen oder auch Zeitzeugenberichte ergeben, denn nicht alles lässt sich bislang zweifelsfrei und lückenlos belegen.

Aus der Lektüre von Jürgen Joedickes Tagebüchern ergaben sich im Wesentlichen drei Stichworte, die auch andernorts eine wichtige Rolle spielten. Das erste ist die Formulierung „Antrag auf eine Stelle über den Wissenschaftsrat“ im Tagebuch SN 84/10 von 1962.12 Zweitens das Stichwort „Hochschulausbau“ mit der Beantragung neuer Ordinariate beim Kultusministerium und drittens, aus dem Antrag der TH Stuttgart folgend, das Problem einer „Umbenennung“ beziehungsweise des „Umtauschs der Institute“. Denn noch bevor das Institut eingerichtet werden und seinen Betrieb aufnehmen konnte, musste es einen anderen Namen als Bezeichnung seiner Zielsetzung erhalten. Hier war jeweils nach den beteiligten Instanzen und Personen zu fragen, um dieses Gründungsrätsel aufzuklären, das dem Charakter des Tagebuchs gemäß dort nicht vollständig erhellt wird, vielleicht auch in manchem Detail Joedicke selbst nicht bekannt war.


II. Die Vorgeschichte, Stichwort I: Antrag beim Wissenschaftsrat

Das Tagebuch mit der von Joedicke vergebenen Nummer 10 enthält am 4. August 1962 die Eintragung, dass man im Wissenschaftsrat ein Institut für Geschichte und Theorie der modernen Architektur beantragt habe: „Wie mir Siegel sagte, ist jetzt über den Wissenschaftsrat ein Institut für mich beantragt worden.“ Mit dem Architekten und Professor für Baukonstruktion Curt Siegel (1911–2004) war Joedicke 1950 als wissenschaftliche Hilfskraft – vorsichtshalber mit kleinem Gepäck – aus Weimar nach Stuttgart gekommen, hatte wenige Wochen zuvor noch diplomiert, dann in Stuttgart 1952 promoviert und 1957 habilitiert. Während der 1950er Jahre lehrte Joedicke am Lehrstuhl Baustatik I–III, später „Entwicklungslinien der modernen Architektur“. Die in der zitierten Tagebucheintragung allerdings offenbleibende Frage lautet, wer denn die Sache Joedickes beim wenige Jahre früher gegründeten Wissenschaftsrat, einer Bund-Länder-Einrichtung zur Förderung von Lehre und Forschung, vertreten haben mochte. Zwei Personen kommen hier infrage und haben vermutlich auch für die damalige TH Stuttgart am selben Strang gezogen: Fritz Leonhardt (1909–1999) und Horst Linde (1912–2016), die beide Mitglied in Fachausschüssen des Wisssenschaftsrats zum Hochschulausbau waren.

Der 1957 gegründete Wissenschaftsrat war ein Bund-Länder-Gremium, um die sogenannten „Gemeinschaftsaufgaben“ im Bildungs- und Forschungsbereich zu bündeln, wozu er zu 50 Prozent mit Bundesmitteln, zur anderen Hälfte von den Ländern finanziert wurde.13 Wer hier mit Anträgen erfolgreich war, belastete also nicht den Universitätshaushalt oder einen einzelnen Landesetat, zugleich mussten die geförderten Maßnahmen von überregionaler, wenn nicht internationaler Bedeutung sein. Solche Mittel waren allerdings nicht auf Dauer gesichert, weshalb die damaligen Überlegungen auch strategischer Art gewesen sein könnten, nämlich der Theorie hier erstmals eine breit unterstützte Sichtbarkeit zu verschaffen als gemeinsames Desiderat von Bauingenieuren, Architekten und Gesellschaftswissenschaften.

Hier spätestens sollten die beruflichen und institutionellen Erfahrungen des Architekten und vormaligen Leiters des Wiederaufbaubüros der Universität Freiburg, Horst Linde, genannt werden, der in seiner späteren Zeit als Ministerialdirigent der Staatlichen Bauverwaltung Baden-Württemberg besonders den Hochschulausbau forcierte. Im Jahr 1961 nahm er eine Professur an der TH Stuttgart an und wurde 1969 Sprecher des ersten Sonderforschungsbereichs für Architektur, SFB 63 „Hochschulbau“, wobei er gleichzeitig aber bis 1971 Leiter der Hochbauverwaltung blieb, die im Finanzministerium angesiedelt war. Sein in den frühen 1960er Jahren gegründetes „Zentralarchiv für Hochschulbau“ bekam im Landeshaushalt einen eigenen Haushaltstitel und ist dem früher gegründeten Schulbau-Archiv von Günter Wilhelm oder den Sammlungen zur Baukonstruktion von Curt Siegel in seinem wissenschaftlichen Anspruch vergleichbar. Sie basierten im Kern jeweils auf einer Diasammlung und zugeordneter Fachliteratur, welche auf dem aktuellen Stand gehalten wurden und auf internationale Vergleiche angelegt waren. Angesiedelt wurde dieses an seinem Lehrstuhl, der inzwischen von „Städtebau“ in „Hochschulbau und öffentliches Entwerfen“ umgewidmet worden war.14 Dies in Betracht ziehend war der Antrag beim Wissenschaftsrat ein wichtiger Schritt, um dem Arbeitsgebiet Joedickes die nötige Aufmerksamkeit und Unterstützung innerhalb der TH Stuttgart zu verschaffen. Nach außen war sie zudem Teil einer mit Ralph Dahrendorf erst noch kommenden eigenständigen Gesamthochschulplanung in Baden-Württemberg, die rückblickend beurteilt auch als Strukturpolitik und Regionalplanung erfolgreich war.15

Auch der Stuttgarter Bauingenieur Fritz Leonhardt, international renommiert durch Brückenbau- und Turmbauprojekte, hatte sich seit Ende der 1950er Jahre für eine Stärkung von Theorie und Grundlagenforschung in Bauingenieurwesen und Architektur eingesetzt, wie an mehreren erfolgreichen Initiativen zu belegen ist. Das prominenteste Beispiel ist sicherlich die Gründung des Instituts für leichte Flächentragwerke (IL), dessen Gründungsdirektor Frei Otto zunächst als Honorarkraft eingestellt wurde; aber auch an der Gründung des Recheninstitut für das Bauwesen (RIB) ab 1958 war er maßgeblich beteiligt.16 In der Sache Theorie und Geschichte der modernen Architektur schreibt Leonhardt am 31. Oktober 1963 als Dekan der Fakultät 2, Bauwesen, bestehend aus den Abteilungen „Architektur“ und „Bauingenieur- und Vermessungswesen“, an das Rektoramt seiner Universität, man habe einstimmig beschlossen, einen Lehrstuhl für „Geschichte und Theorie der modernen Architektur“ mit zwei wissenschaftlichen Assistenten, einer wissenschaftlichen Hilfskraft und einem Fremdsprachensekretariat zu beantragen, einzurichten in den Räumen „Keplerstr. 10, Platzbedarf zwischen 80 und 100 Quadratmetern“.17 Begründet wird dieser Antrag damit, dass ein „paradoxer Zustand der Theorielosigkeit“ herrsche; außerdem wird auf den Wissenschaftsrat verwiesen und auf Diskussionen um Universitätsneugründungen wie die Ruhr-Universität Bochum: Dort werde es neue Lehrpläne für Geschichte und Theorie in technischen Fächern geben. Hingewiesen wird auch auf eine Denkschrift von Wilhelm Bader und Rolf Gutbier, die leider noch nicht auffindbar war. Ein Echo auf die kontroverse Meinungsbildung innerhalb der Architekturabteilung, von der Joedickes Kommentare in den Tagebüchern zeugen, mag Leonhardts Hinweis sein, dass „[d]ie Abteilung für Architektur […] dem beantragten Lehrstuhl [Geschichte und Theorie der modernen Architektur] eine ähnlich große Bedeutung […], wie dem Fach Baugeschichte“ zubillige.18 Leonhardt schrieb hier als Dekan der Fakultät Bauwesen und – seinen Ambitionen nach – womöglich schon als zukünftiger Rektor der TH Stuttgart. Diese würde unter seinem Rektorat zur Universität werden und im Bereich Architektur und Bauingenieurwesen erfolgreich zwei der frühesten Sonderforschungsbereiche der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG) beantragen, namentlich Horst Lindes oben erwähnten SFB 63, „Hochschulbau“, und SFB 64, „Leichte Flächentragwerke“. Dies mag zum Stichwort „Antrag beim Wissenschaftsrat“ genügen, welches erstmals 1962 in Joedickes Tagebuch SN 84/10 vorkommt und sich dann durch Fritz Leonhardt und einen Fragebogen19 mit gleichlautenden Formulierungen 1964 manifestiert.


III. Die Vorgeschichte, Stichwort II: Ausbau der TH Stuttgart

Innerhalb der Technischen Hochschule Stuttgart war das Vorgehen formal folgendes, wie sich im Stuttgarter Hauptstaatsarchiv belegen lässt: Am 7. Januar 1964 wurde von der Bauaubteilung  mit Formblatt Nr. 3, „Antrag auf Bewilligung einer Stelle“, das „Ordinariat für Geschichte und Theorie der modernen Architektur“ beim Rektoramt beantragt.20 Unterzeichner war Fritz Leonhardt, mitaufgelistet wurden Raumangaben bis 1970, wobei zunächst eine vorläufige Unterbringung geplant war, dann die Unterbringung im noch zu errichtenden Gebäude Kollegiengebäude 3, womit die Überbauung des Parkplatzes neben dem gerade erst bezogenen Kollegiengebäude 1 gemeint war, die nicht ausgeführt wurde. Wiederum wird auf einen Beschluss der Bauabteilung vom 11. Juli 1962 verwiesen und wortgleich mit dem Formular an den Wissenschaftsrat argumentiert:

„Begründung: Es gilt, eine Lücke auf dem Gebiet der Geistesgeschichte der modernen Architektur zu füllen. Die Lehrstühle für Kunst- und Baugeschichte vermögen nicht die neuen und noch unerforschten Gebiete einer Theorie der modernen Architektur aufzuschließen. Die Architekturabteilung verweist auf den bisher einzig bekannten Lehrstuhl dieser Art an der Harvard-Universität bzw. der ETH Zürich. Dort wird dieses bedeutsame Lehrgebiet durch Professor Giedion vertreten, der in halbjährigem Wechsel an beiden Hochschulen lehrt. Die Architekturabteilung in Stuttgart möchte mit der Errichtung eines ähnlichen Lehrstuhles in der Bundesrepublik vorangehen und damit eine längst fällige Entwicklung in Deutschland fördern.“21

Mit diesem Schriftstück beginnt die Akte „Professur für Grundlagen der modernen Architektur (und Entwerfen)“, die das Hauptstaatsarchiv Stuttgart vom Kultusministerium übernommen hat.22 Aber im Folgenden Jahr 1965 konkurrierten zwei von der Universität beantragte Architekturlehrstühle beim Kultusministerium, wobei der für Joedicke vorgesehene „Geschichte und Theorie der modernen Architektur" auf Platz drei stand, "Grundlagen des Entwerfens“ aber erst auf Platz fünf der Universitätsliste platziert war. Womit wohl keiner der Antragsteller gerechnet hatte, trat ein: Nur der auf Platz fünf gesetzte wurde bewilligt. „Geschichte und Theorie der modernen Architektur“ wurde abgelehnt, womit ich zum letzten Punkt meiner Darlegungen komme, zum Stichwort „Umbenennung“, oder auch, im damaligen Wortlaut, zum „Umtausch der Institute“.


IV. Stichwort III: „Umtausch der Institute“ und Entstehung der Denomination

Mit einem Schreiben vom 26. Juli 1965 interveniert der Architekt Rolf Gutbier als Dekan der Fakultät für Bauwesen beim Großen Senat der Universität Stuttgart, via Rektoramt, um den Lehrstuhl „Grundlagen des Entwerfens und Entwerfen“ gegen „Geschichte und Theorie der modernen Architektur“ umzutauschen; dazu bezieht er sich auf  die einstimmigen Beschlüsse der Abteilung Architektur vom 7. Juli 1965 und der Fakultät Bauwesen vom 26. Juli desselben Jahres, welche sich beide für den nicht genehmigten, vordringlichen Lehrstuhl „Geschichte und Theorie“ aussprachen. „Entgegen der Gepflogenheit“ sei Platz fünf der Liste bewilligt, Platz drei aber abgelehnt worden. Ein Wahlfach „Entwicklungslinien der modernen Architektur“, wie Jürgen Joedicke es bislang als Dozent und demnächst als Wissenschaftlicher Rat am Lehrstuhl für Statik und Industriebau lehre, sei zu wenig. Deshalb sei der Hinweis auf die bereits vorhandene Baugeschichte auch nicht angebracht: „Der traditionellen Baugeschichte, die begreiflicherweise Mühe genug hat, ihr eigenes Pensum aufzuarbeiten, kann hier kein Vorwurf gemacht werden; hier ist Anderes und Neues angesprochen.“23

Es war der TH offenbar ein taktischer oder strategischer Fehler unterlaufen, als sie davon ausging, auf den Plätzen drei und fünf beide Architekturprofessuren erfolgreich beantragt zu haben: Die wirtschaftlichen Voraussetzungen hatten sich geändert. Mit der Erwartung, beide Professuren bewilligt zu bekommen, wäre zu erklären, warum die Begründungen ihrer Art nach sehr unterschiedlich ausfielen und auch nicht ähnlich ausführlich waren: Zum Nachteil Joedickes wurde für „Geschichte und Theorie der modernen Architektur“ kurz und akademisch argumentiert, für „Grundlagen des Entwerfens“ dagegen aus der Notwendigkeit guter Lehre für eine wachsende Zahl Studierender und ausführlich für einen besseren Praxisbezug in der Architekturausbildung. Während für „Geschichte und Theorie“ elf Zeilen zum internationalen Vergleich mit Harvard und Zürich, an die Anschluss gesucht wurde, und zur Abgrenzung von Kunst- und Baugeschichte genügten, wurde für „Grundlagen des Entwerfens“ ausführlich auf 37 Zeilen geworben und die Lösung mehrerer dringender Probleme des Studienverlaufs für die wachsende Zahl der Studierenden gleichzeitig versprochen. Es überrascht deshalb wenig, dass das Kultusministerium sich gegen „Geschichte und Theorie“ entschied, als es aus ökonomischen Gründen vor die Wahl gestellt wurde.

An der TH Stuttgart wurden jetzt zwei mögliche Reaktionen erörtert: entweder ein Umtausch der Institute, als Umbenennung, oder aber eine Neubeantragung von „Geschichte und Theorie“ im folgenden Jahr. Gegen letztere allerdings sprachen Vorzeichen einer sich verschlechternden Haushaltslage und weitere zu erwartende Verzögerungen. Und tatsächlich sieht man auch an der Beantragung 1965, dass diese erst 1967 umgesetzt werden konnte. Dazwischen liegen noch die Aufnahme in den Landeshaushalt und die Bestätigung durch das Parlament, übrigens während das Berufungsverfahren schon läuft.

Nun aber endlich zu einem wirklichen „Urstück“ in der Gründungsgeschichte des IGmA, zum ersten Dokument in der Personalakte Jürgen Joedicke24 – erst später um zehn frühere Schriftstücke „als Vorgeschichte“ ergänzt. Es ist das Schreiben von Wolfgang Meckelein, Professor für Geographie, Rektor der TH Stuttgart, an das Kultusministerium: 

„Die Technische Hochschule Stuttgart bittet nunmehr mit Zustimmung des Großen Senats, den Lehrstuhl für ‚Grundlagen des Entwerfens und Entwerfen‘ mit der Fachrichtung ‚Geschichte und Theorie der modernen Architektur‘ besetzen zu dürfen.“

Auf diesen Antrag auf Zustimmung zur Umwidmung einer Professur antwortet der Leitende Ministerialrat Günter von Alberti per Erlass ablehnend. Er begründet dies unter Rückgriff auf Argumente der Hochschule für den Lehrstuhl „Grundlagen des Entwerfens und Entwerfen“. Dieser erscheine dem Ministerium wichtiger, denn Geschichte und Theorie seien ein „Zusatzgebiet“ und zudem mit „Jödicke“ (sic!) bereits vertreten, der ja demnächst Wissenschaftlicher Rat25 werde und dadurch sei das Lehrgebiet „auch auf die Dauer gesichert“.

Aufschlussreich ist ein undatierter und unsignierter Aktenvermerk in der gleichen Akte, der den zuständigen Regierungsdirektor Hermann Kammerer mit der Auffassung wiedergibt, der Entwurfslehrstuhl sei besser begründet gewesen; Geschichte und Theorie der modernen Architektur sei zwar erwünscht, aber: „In Deutschland gibt es einen derartigen Lehrstuhl noch nirgends“. Was auch immer das in diesem Kontext genau bedeuten sollte und ob es wirklich stimmte – innovationsfreudig kann es nicht genannt werden. Die Frage nämlich, ob man Architekturtheorie brauche, war bereits öffentlich zugunsten der Theorie beantwortet worden, so von Herrmann Funke in der überregionalen Wochenzeitung Die Zeit im Mai 1965, in der der Journalist bemängelt hatte, es gebe in Deutschland leider an Universitäten keine Architekturtheorie.26 Dem widersprach Jürgen Joedicke mit Hinweis auf Oswald Mathias Ungers an der TU Berlin27 und auf seine eigene Tätigkeit. Mit Erfolg bestand er auf Veröffentlichung seines Widerspruchs, der allerdings nicht als Gegendarstellung erschien, sondern in der Rubrik Leserbriefe.

An der TH Stuttgart muss die Einsicht gereift sein, dass man nicht allein und auch nicht kurzfristig auf der Ebene von Erlassen und Anträgen auf Überprüfung erfolgreich sein werde. Es bedurfte ganz offensichtlich „paralleler Maßnahmen“, die sich als Verweise auf Gespräche auch im Schreiben des Rektors an das Kultusministerium wiederfinden. Meckelein bittet am 21. Januar 1966 um Überprüfung des Erlasses und bettet einen Brief ein, der seinerseits auf ein Hintergrundgespräch zwischen Horst Linde und einem Vertreter des Ministeriums, Dr. Autenrieth, Bezug nimmt, das nur vier Tage früher am Rande einer Tagung des Wissenschaftsrats in Heidelberg geführt wurde. Demnach solle man nun dem „Umtausch“ – heute würde man von Umwidmung sprechen – zustimmen, dann werde das Gebiet „Grundlage des Entwerfens“ von den beiden Lehrstühlen für Baukonstruktion mitabgedeckt werden. Das biete den zusätzlichen Vorteil, dass damit in das „systematische Denken“ eingeführt werde. Außerdem werde dann kein weiterer Antrag für dieses Lehrgebiet mehr gestellt werden. Linde seinerseits lässt bereits zwei Tage früher am 19. Januar 1966 flankierend ein Schreiben der Architekturabteilung durch sein Sekretariat an Autenrieth weiterleiten.

Ohne genaues Datum, aber vor dem 7. Februar ist dann ein Anruf Dr. Autenrieths bei Linde aktenkundig, bei dem die fortbestehenden Bedenken von Albertis erörtert werde. Linde schreibt daraufhin gleichentags als Professor für Hochschulbau und Entwerfen, aber mit Dienstsitz Finanzministerium, Neues Schloss, so der Briefkopf, an von Alberti und unterbreitet eine salomonische Lösung, die sich als tragfähig erweisen wird: Man könne wie gewünscht den Begriff „Grundlagen“ in der Bezeichnung des Lehrgebiets beibehalten und es werde kein weiterer Lehrstuhl für die „Einführung in den Entwurf“ beantragt werden. Linde schreibt sodann autoritativ, eine Architekturlehre sei „heute nicht mehr denkbar ohne Geschichte und Theorie“, also sinngemäß: Weitere Anträge für diese Professur seien zwangsläufig zu erwarten, falls sie immer noch abgelehnt werde. „Der Herr Abteilungsleiter wäre sehr dankbar, wenn Sie nunmehr Ihre Bedenken zurückhalten könnten und die beantragte Umbenennung der Lehrstühle in der von Ihnen gewünschten Modifizierung bestätigen könnten.“28

Noch im Februar, am 22. oder 24., ergeht ein zweiter Erlass, der den „namens der Abteilung“ von Linde mitgeteilten Änderungen zustimmt. Zusammenfassend heißt es nun: „Es dürfte sich jedoch empfehlen, den Lehrstuhl [eingefügt: ‚etwa‘] wie folgt zu bezeichnen: ‚Grundlagen der modernen Architektur‘“. Der eigentliche Grund für die vormalige Ablehnung von Albertis drückt sich wahrscheinlich in einer anderen Aktennotiz aus: „Einer Beteiligung des Finanzministeriums oder des Landtags bedarf es nicht, da es sich um wesensverwandte Fächer, nämlich in beiden Fällen um Grundlagen der Architektur handelt.“ So wurde aus „Geschichte und Theorie“ also innerhalb weniger Wochen „Grundlagen“, auch um eine Beteiligung des Landtags von Baden-Württemberg zu vermeiden. Es darf vor dem Hintergrund der seit ungefähr 1963 öffentlich ausgetragenen Konflikte um die Finanzierung und hochschulrechtliche Stellung der HfG Ulm vermutet werden, dass im Landtag die Erfolgsaussichten für neue Theorielehrstühle ziemlich schlecht standen.


V. Die Institutsgründung: Berufung Joedickes und der Zusatz „und Entwerfen“

Nun aber endlich zur Institutsgründung im engeren Sinne: Das Berufungsverfahren war bereits 1966 weitgehend abgeschlossen, zum Vortrag eingeladen worden waren Christian Norberg-Schulz, Günter Feuerstein und Helmut Weber, die vermutlich wussten, dass die Stelle bereits für einen Mitbewerber vorgesehen war, der aus Stuttgart kam. Die Berufung von Professor Dr.-Ing. Jürgen Joedicke erfolgte am 3. April 1967 und die Berufungsverhandlungen wurden am 3. Mai geführt, worüber es in einem Aktenvermerk über den Zweck des Lehrstuhls heißt, dieser diene der „[…] rationale[n] Erfassung der Grundlagen der Architektur, dabei Berücksichtigung der geschichtlichen Komponente." Joedickes Wünsche seien: „Zukunftsprogramm = ein Institut mit 4 Assistenten, 2 Angest. (davon 1 wiss.) für Dokumentation und Sammlung, 1–2 Stellen für Forschung und Sekretärin.“ Zudem wurde handschriftlich vermerkt, dass das „[…] Institut […] auch bei beschränkten Mitteln baldmöglichst errichtet werden“ sollte, was dem Wunsch Joedickes entsprach, der für diese Gründungsphase seinerseits ein „Minimalprogramm“ formuliert hatte. Dieses bestand aus einem Oberassistenten, einem wissenschaftlichen Assistenten (möglichst zwei), einer Fremdsprachensekretärin und Mitteln für wissenschaftliche Hilfskräfte, insgesamt mindestens 12.600 DM; mit Bitte um Stellungnahme an die TH. Aus der Antwort der Hochschule ergibt sich eine leihweise Überlassung einer Assistentenstelle für 1967, für 1968 ist sie unter Finanzierungsvorbehalt des Finanzministeriums gestellt, ein Raumbedarf von 160 qm wird anerkannt, ebenso wie Sachmittel. Ein Aktenvermerk, vermutlich von Autenrieth, vermerkt neben dem Stichwort Minimalausstattung, dass der zukünftige Ordinarius „beachtliche Ideen zum Ausbau des Faches“29 habe. Wenn Joedicke dieser Gründung auf Sparflamme dennoch zustimmte, dann wegen der Unterstützung durch seine Hochschule und den erklärten Absichten zum Ausbau des Institutes: „[…] weil Sie mir zugesagt haben, für den Aufbau eines Institutes weitere Stellen in den folgenden Jahren zur Verfügung zu stellen.“ Dies wird ihm noch einmal am 23. Juni 1967 schriftlich bestätigt: „Die Einrichtung eines Instituts für Grundlagen der Architektur (oder mit ähnlicher Bezeichnung) wird vom Kultusministerium auf Antrag der TH genehmigt werden.“30

Soweit die eigentliche Gründungsfußnote aus den Archiven. Nun noch ein Nachgedanke: Persönlich bin ich doch überrascht und halte es für diskussionswürdig, wie scheinbar leicht aus „Geschichte und Theorie der modernen Architektur“ im Gründungsprozess „Grundlagen der modernen Architektur“ wurde. Denn werden Grundlagen nicht in den ersten Semestern oder in Propädeutika gelegt oder aber zur Charakterisierung grundlegender Forschungen verwendet, nicht aber für Lehrstühle? Auf der Ebene des ministerialen Beschlusses mag „Grundlagen“ eine konservative Färbung besessen haben, die sich auch bei anderen Fächern niederschlug. In der Architekturliteratur war in den 1950er Jahren der im Nationalsozialismus hochangesehene Herbert Rimpl mit einem schmalen Büchlein Die geistigen Grundlagen der Baukunst unserer Zeit erfolgreich, das mit Überlegungen zum Verhältnis von Mensch und Technik in der Moderne beginnt und bei Goethe Anleihen nimmt.31

Für Joedicke mag folgende Herleitung oder, vielleicht besser, Aneignung des Begriffs plausibel sein: Er dachte Theorie offenbar als notwendigen Unterbau für die Praxis des Entwerfens, nicht als Überbau, wie etwa der Kunsthistoriker Martin Warnke kurze Zeit später; deshalb konnte er einzelne Theoreme auch als je spezifische Grundlage benennen und aus Bauwerksanalysen ableiten – ähnlich vielleicht wie gleichzeitig Oswald Mathias Ungers, dessen öffentlich diskutierter Theorielehrstuhl der Denomination nach eine „Einführung in das Entwerfen“ war. Offenbar ging es in dieser Zeit – vor der Schließung der HfG Ulm – noch nicht um den Fokus auf Planungstheorie, obgleich Joedickes Antrittsvorlesung im Mai 1969 den Titel „Zur Formalisierung des Planungsprozesses“ tragen wird. Abseits dieses frühen Namensgebungs-und Profilfindungsprozesses war die Erweiterung um „und Entwerfen“, wie auch Stephan Trüby in seiner Antrittsvorlesung vom November 2018 erörtert hat, für Joedicke von großer Bedeutung: Theorie interessierte doch nur insofern als diese praktische Entwurfsarbeit begründen, verbessern, reflektieren oder vermitteln konnte. Für historische Theorie, Ästhetik und Wissenschaftstheorie war das IGmA insofern zwar offen, betrieb diese selbst aber nicht, wie beispielhaft ein Blick in die Entstehungskontexte der in der Reihe Arbeitsberichte zur Planungsmethodik verlegten Arbeiten belegt.32

Generell aber ließe sich die Gründung des IGmA im Rückblick, anders als hier dargestellt, auch als eine andere, auf Planungstheorie und die Auflösung der HfG Ulm bezogene darstellen; so geschehen mit dem Band Vergessene Schulen33, wo sowohl die Gründung der Zeitschrift ARCH+ im Umkreis des IGmA als auch die spätere Gründung des Instituts Grundlagen der Planung, der Lehrstuhl für den Mathematiker und Systemforscher Horst Rittel, ins Zentrum gerückt werden. Mit der Erweiterung um „und Entwerfen“ grenzte Joedicke sich allerdings gegenüber der früher von ihm mitvertretenen neueren Planungstheorie ab. Vor allem schloss sich für ihn persönlich ein bis in die 1950er Jahre zurückreichender Kreis zu seinem Werdegang bei Curt Siegel, dessen Lehrstuhlbezeichnung bekanntlich einfach „Statik und Industriebau“ lautete. Im November 1973 war vom Ministerium die Erweiterung der IGmA-Denomination erlaubt worden, ab jetzt hieß es also „Institut für Grundlagen der modernen Architektur und Entwerfen“. Hierzu schreibt Joedicke am 31. Dezember 1973 in sein Tagebuch im Jahresrückblick: „Dabei habe ich nun mehr erreicht als Siegel, der ständig darum gekämpft hat. Allerdings ist es jetzt auch leichter.“34 Von anderen Fragen dieser Zeit, die schwieriger geworden waren – wie die Vereinbarkeit von Professur, Arbeit als Architekt und Publizist – wird andernorts zu berichten sein.

Christian Vöhringer ist Kunsthistoriker. Er besorgte die Erschließung des Nachlasses von Jürgen Joedicke, der seit 2018 am IGmA aufbewahrt wird.

1

Allgemein zur Entwicklung der Bildungseinrichtungen Doris Knab: „Bildungslandschaft Baden-Württemberg“, in: Hans Georg Wehling u.a. (Hg.): Eine politische Landeskunde (Bd. 2). Stuttgart: Kohlhammer, 1991, S. 110–123.

2

Die heutige Denomination lautet „Institut für Grundlagen moderner Architektur und Entwerfen“. Die Streichung des bestimmten Artikels wurde 1993 von Werner Durth nach seiner Berufung als Institutsleiter veranlasst. Zum Zusatz „und Entwerfen“ siehe unten.

3

Vgl. Kerstin Renz: Testfall der Moderne. Diskurs und Transfer im Schulbau der 1950er Jahre. Tübingen und Berlin: Wasmuth, 2016.

4

Jesko Fezer: „Jürgen Joedickes Planungsmethodik: Die Funktionalisierung der Architekturtheorie“, in: Nina Gribat u.a. (Hg.): Vergessene Schulen. Architekturlehre zwischen Reform und Revolte um 1968. Leipzig: Spector Books, 2017, S. 261–279. Obgleich hier ein wichtiger Aspekt der frühen IGmA-Jahre angesprochen wird, sollte die „Funktionalisierung“ nicht als Hauptmerkmal einer Schulbildung gelten, weil diese vom Institutsgründer Jürgen Joedicke und seinen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern bereits während einer längeren Übergangsphase, an deren Ende Horst Rittel 1973 den Lehrstuhl für Gebäudekunde übernimmt, dann Institut für Grundlagen der Planung, kritisch aufgegeben wird. Vgl. Tagebucheinträge im privaten Nachlass Joedickes im Universitätsarchiv Stuttgart, SN 84/14 und SN 84/16.

5

Die Personal- und Vorlesungsverzeichnisse der Technischen Hochschule Stuttgart vom Wintersemester 1954/55 und 1956/57 nennen Jürgen Joedicke jeweils als Lehrbeauftragten im Wahlbereich „Konstruktion und Form im neuen Bauen“. Über „Konstruktion und Form. Eine Untersuchung des Bauens von 1895 bis 1933“ hatte Jürgen Joedicke bei Siegel promoviert, Zweitgutachter war Günter Wilhelm, vgl. auch Universitätsarchiv Stuttgart, Wüstenrot Stiftung (Hg.): Jürgen Joedicke 1925-2015. Notes from the Archive. Ludwigsburg: Wüstenrot Stiftung, 2020, S. 8–19.

6

Hauptstaatsarchiv Stuttgart, EA 3/907, Bü 4531, Bl. 6, Schreiben Curt Siegels vom 9. 2. 1960 an das Kultusministerium wegen monatlicher Pauschalmittel für die Sammlungen von 500,-DM. Joedicke war am Aufbau der Diathek beteiligt und übernahm diese später in sein Institut, um sie bis 1993 fortzuführen.

7

Auch Jürgen Joedicke und sein späterer Kollege Antonio Hernandez sprachen dort. Die Veröffentlichungen zur Architektur, welche an der TU Berlin seit 1965 herausgegeben wurden und 1968 bereits bei Heft 22 angelangt waren, sind mit ihren Themen ein Beleg der dortigen historischen, theoretischen und systematischen Forschungsinteressen, vgl. Technische Universität Berlin Lehrstuhl für Entwerfen VI (Hg.): Architekturtheorie: Internationaler Kongress in der TU, Berlin, 11. bis 15. Dezember 1967 (=Veröffentlichungen zur Architektur 14). Berlin 1968: TU Berlin.

8

Im digitalen Findbuch des Universitätsarchivs Stuttgart (www.archiv.ub.uni-stuttgart.de) ist der Bestand online recherchierbar und in Auswahl auch als Volltext und Bilddokument unter https://digibus.ub.uni-stuttgart.de einsehbar. Aufstellungsort sind die Räumlichkeiten des IGmA im Kollegiengebäude 1 der Universität Stuttgart.

9

Von Joedickes langjähriger Mitarbeit und verantwortlichen Redakteursarbeit bei Bauen + Wohnen zeugt am besten die Online-Datenbank dieser Zeitschrift auf www.e-periodica.ch. Der früheste Beleg seiner Bemühungen um eine Professur ist die Bewerbung an der TH Darmstadt, siehe SN 84/140–5. Darin ist ein Brief Joedickes vom 2. Juli 1961 an Ernst Neufert enthalten, worin er seine Konzeption einer „Statik für Architekten“ erläutert, außerdem werden seine bisherigen Lehrveranstaltungen zu Baustatik und moderner Architektur aufgelistet.

10

SN 84/454, Typoskript „Architekturtheoretische Überlegungen zum Entwurf“ datiert „Sept. 1968“, also ein Jahr nach dem Wettbewerbssieg. Abgedruckt in Wüstenrot Stiftung 2020 a. a. O., S. 75–77.

11

Eine von Behnisch und Partnern 1968 in Auftrag gegebene Begutachtung der Zeltdachkonzeption durch namhafte internationale Baukonstrukteure, zu denen Joedicke mutmaßlich den Kontakt hergestellt hatte, wurde im Eigenverlag publiziert; vgl. SN 84/480 und zahlreiche Exemplare im Bestand Behnisch, saai Karlsruhe.

12

Universitätsarchiv Stuttgart, Bestand SN 84/10, unpaginiert. Eine Kopie dieses Antrags ist Teil von SN 84/142, Nummer 1, Institutsgründung GTMA, Geschichte und Theorie der modernen Architektur (=IGmA), ca. 1965, 3 Bll.

13

Vgl. Olaf Bartz: Wissenschaftsrat und Hochschulpolitik (Dissertation). Bonn 2006. Es kann hier nicht näher darauf eingegangen werden, dass wichtige Diskussionen des WR sich am US-amerikanischen zweigeteilten Hochschulsystem orientierten und dessen Teamgedanken in der Forschung vor den einzelnen Ordinariaten favorisierten. Siehe hierzu auch Oliver Jarausch: „Amerika – Alptraum oder Vorbild? Transatlantische Bemerkungen zum Problem der Universitätsreform“, in: Ulrich Sieg u.a. (Hg.): Die Idee der Universität heute. München: Saur, 2005, S. 87–102.

14

Den Nachlass von Horst Linde, charakterisiert als „Teilwerkarchiv“, verwahrt das saai in Karlsruhe. Einige Dokumente sowie die Bestände des Zentralarchivs für Hochschulbau und des SFB befinden sich im Universitätsarchiv Stuttgart, Bestand 49.

15

Ralf Dahrendorf hatte an der London School of Economics promoviert und war Experte für Chancengleichheit in der Bildung, die im Flächenstaat Baden-Württemberg vor allem die Stadt-Land-Ungleichheit betraf; Auf seine Konzeption geht die Gesamthochschulplanung zurück, auch Dahrendorf-Plan genannt.

16

Vgl. Fritz Leonhardt: Baumeister in einer umwälzenden Zeit. Erinnerungen. Stuttgart: Deutsche Verlags-Anstalt, 1998, S. 246; die Initiative ging demnach von Volker Hahn als Vorstand bei Züblin aus; auf informationstechnologischer Seite war der Baustatiker Lothar Bornscheuer maßgeblich beteiligt. Heute ist RIB ein börsennotiertes Unternehmen mit zahlreichen Software- und Plattformangeboten für Projektplanung, Bauingenieurwesen und Architektur.

17

Hauptstaatsarchiv Stuttgart, Bestand EA 3 / 907; Bü 4318

18

Ebd.

19

Ebd.

20

Hauptstaatsarchiv Stuttgart, EA 3/907 Bü 4318, Bl. 1–3.

21

Hervorhebung im Original durch Unterstreichung.

22

Hauptstaatsarchiv Stuttgart, EA 3/907.

23

Hervorhebung im Original durch Unterstreichung.

24

Universitätsarchiv Stuttgart, AZ H 7302/1.

25

Die entsprechende Ernennungsurkunde findet sich in SN 84/152.

26

Herrmann Funke: „Schlaftürme und Negativräume“, in: Die Zeit, 5. Februar 1965; Leserbrief Joedickes, abgedruckt am 5. Mai 1965, vgl. ARCH+ feature 81, Begleitheft zur Ausstellung IGmAde: 50+ Jahre Architektur, Theorie & Poiesis. Stuttgart 2018: Württembergischer Kunstverein, Exponate 5.1.1–5.1.4. SN 84/Typoskript des Leserbriefes.

27

Dessen Lehrstuhl aber die Bezeichnung „Entwerfen und Gebäudelehre“ trug.

28

Hervorhebung im Original durch Unterstreichung.

29

EA 3/907 Bü 4318.

30

EA 3/907 Bü 4318, Bl. 64, datiert 23. 6. 1967.

31

Herbert Rimpl: Die geistigen Grundlagen der Baukunst unserer Zeit. München: Callwey, 1953. Rimpl spricht sich dort für eine Verbindung angewandter Naturwissenschaften mit einem „modernen Pantheismus“ aus, beispielhaft ebd., S.62f. mit Bezug zur „organischen Baukunst“.

32

So entstand etwa die Arbeit über „Numerische Ästhetik“ von Siegfried Maser als Dissertation bei Max Bense. Offensichtlich nutzte Joedicke hier seine guten Kontakte zum Verlag Karl Krämer, vgl. Siegfried Maser: Numerische Ästhetik: neue mathematische Verfahren zur quantitativen Beschreibung und Bewertung ästhetischer Zustände(=Arbeitsberichte zur Planungsmethodik 2). Stuttgart: Karl Krämer, 1970.

33

Vergessene Schulen, FN 1.

34

SN 84/16. Hervorhebung im Original durch Unterstreichung.