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Wenn ich mir – nach 60 Jahren – den Beginn meines Architekturstudiums im Wintersemester 1956/57 an der damaligen TH Stuttgart in Erinnerung rufe, fallen mir viele Bilder ein: die Bauten der Kunstakademie am Weißenhof, in denen wir untergebracht waren, direkt neben den Ateliers der Maler und Bildhauer. Günter Wilhelm zeichnete mit Kreide Beton- und Stahldetail neben -detail an die Tafel, Harald Hanson rief 100 Mal dem HiWi am Diaprojektor, ob bei der Cheops-Pyramide oder dem Straßburger Münster, "schärfer, bitte, Herr Schäfer", während Curt Siegel und sein Assistent Jürgen Joedicke uns die vereinfachten Rechenformeln für die statischen Berechnungen beibrachten.
Im zweiten Semester durfte ich die bescheidene Baustoffsammlung von Dozent Sautter nach seinem komplexen Dezimalsystem ordnen, aber im dritten Semester, 1957/58, wechselte ich als studentische Hilfskraft (HiWi) zu unserem Statik-Dozenten, Jürgen Joedicke, und musste bei der Betreuung der Erstsemester in Statik mithelfen. Ich blieb HiWi bei ihm bis zu meinem Studienende im Herbst 1965. Bis dahin hatte er noch keinen Wissenschaftlichen Mitarbeiter. Meine Hauptaufgabe war, die Diasammlung für Joedickes Vorlesungen zur "Geschichte der modernen Architektur" rasch vergrößern zu helfen: Zeitschriften und Bücher nach Bildmaterial zu durchforschen, zum Fotografen zu bringen, die Negative systematisch aufzubewahren. Die in Diapositive umgewandelten Repros waren in dünne Passepartouts einzukleben, diese zwischen zwei Glasplättchen zu klemmen, am Rand mit Klebestreifen zu befestigen und an der oberen Seite mit einer laufenden Nummer zu versehen. Ich war der Nachfolger eines Herrn Haas, dessen Vornamen ich vergessen habe, dieser wiederum war auf Roland Ostertag gefolgt. Zu den Dias gehörten jeweils zwei Karteikarten DIN A5, die dann nach Architekten und Ländern (oder Perioden) sortiert und in Kästen eingeordnet wurden. Diese zeitaufwendige Handarbeit begleitete mich während meines gesamten Studiums, das 15 Semester dauerte – gerechnet ohne ein Jahr Zwischenpraxis, in dem ich unter Erwin Heinle die Elektro- und Klima-Installation für das Landtagsgebäude in Stuttgart möglichst volumensparend in das Stahlbetonskelett einplanen musste und dafür die Werkpläne im Maßstab 1:50 zeichnete.
Im Herbst 1960 verließen wir das enge Mansard-Zimmer der Kunstakademie und zogen in die großzügigen Räume des K1 in der Keplerstrasse um. 1958 erhielt Joedicke noch als Assistent bei Siegel die Lehrbefugnis als Privatdozent und damit die Möglichkeit, den Inhalt seiner Promotions- und seiner Habilitationsschrift Geschichte der Modernen Architektur1 zum Fundament seiner Vorlesung "Entwicklungslinien der modernen Architektur" zu machen. Das völlig neue Fach – Architekturgeschichte hörte damals noch mit Schinkel auf – im Programm der Stuttgarter Architekturfakultät stand im Hauptstudium zur Wahl. Es wurde durch ein Seminar ergänzt, in dem Bauanalysen, später auch theoretische Themen erarbeitet wurden. Im Mittelpunkt standen vor allem Gropius, Le Corbusier und Mies van der Rohe, die „Meister“, die die Architektur des 20. Jahrhunderts zur "Moderne" geführt und diese sozusagen vollendet hatten. Man darf nicht vergessen, dass Mies van der Rohes Seagram Building in Chicago 1959 fertig wurde und seine Fassade dem Landtagsgebäude in Stuttgart im gleichen Jahr zum Vorbild diente.
Später, 1973, hat Wolfgang Pehnt in seiner großen Arbeit Die Architektur des Expressionismus zurecht kritisiert, dass es „den Historiographen der neuen Architektur” darum gegangen sei, (durch gezielte Auswahl) „einem von vornherein für unantastbar gehaltenen Ideal den Stammbaum zu erfinden”.2 Er erwähnt Jürgen Joedicke und die 1958 erschienene Geschichte der modernen Architektur dabei nicht, wohl aber Nikolaus Pevsner, dessen Pioneers of Modern Design 1957 in deutscher Sprache als Wegbereiter moderner Formgebung. Von Morris bis Gropius3 erschienen war. Pevsner gestand später selbst seine Einseitigkeit und Ignoranz gegenüber anderen Richtungen ein. Dass Pehnts Kritik auch auf Joedickes Buch gezielt haben könnte, zeigt seine erste Bemerkung, das Thema Expressionismus habe ihn seit 1958 beschäftigt. Joedicke war 1953 in Stuttgart mit dem Thema Konstruktion und Form. Eine Untersuchung des Bauens von 1895 bis 1933 in Deutschland promoviert worden. Sicherlich war sein Doktorvater, Curt Siegel, der 1950 mit ihm zusammen von Weimar nach Stuttgart übergesiedelt und an der TH zum Professor für Statik berufen worden war, der Spiritus Rector dieser Vorstellung, was sein 1960 erschienenes Buch Strukturformen der modernen Architektur4 bestätigte. Wolfgang Pehnt hatte sehr wohl Recht in Bezug auf Joedickes Geschichte der modernen Architektur, aber nicht im Blick auf die weitere Arbeit Joedickes in den folgenden Jahren im Fach "Entwicklungslinien der modernen Architektur". Joedicke behielt durchaus seine Sicht einer "modernen" Architektur bei, aber er ergänzte die Protagonisten nach vielen Seiten hin. Joedicke hat, von heute aus betrachtet, die Lücken in seiner Arbeit Stück für Stück gefüllt und immer wieder betont, damit "Versäumnisse nachzuholen".
1959 wurde Peter Zerweck zweiter HiWi bei Joedicke. Zusammen haben wir nicht nur die Diasammlung weitergeführt, aus der noch Roland Ostertag als Professor in Braunschweig sich bedienen konnte; wir haben auch einige der Vorlesungen Joedickes in Struktur und Inhalt vorbereitet. Für uns war es die großartige Gelegenheit, auf diese Weise die Entwicklung von Joedickes „Entwicklungslinien” erleben und mit gestalten zu können. Joedicke gab uns viel Freiheit dafür. Wir arbeiteten zeitweise mehr für ihn und sein Fachgebiet als für das Studium – und das mit großer Begeisterung. Ich möchte nur einige Beispiele für die „Erweiterung” der Entwicklungslinien erwähnen: Nach einer Spanienexkursion 1959 schrieb Joedicke einen Aufsatz, der im Mai 1960 in der Zeitschrift Bauen + Wohnen erschien, „Willkür und Bindung im Werk Antonio Gaudís”,5 mit statisch-analytischen Zeichnungen von dessen Gewölbekonstruktionen. Gaudí erhielt nun einen wichtigen Platz in Joedickes Geschichtsschreibung. Das war lange bevor die Delfter „Gaudí-groep“ ihre vorbildlichen Analysen seiner Werke 1979 zusammen mit einer Ausstellung publizierte unter dem Titel Gaudí, Rationalist met perfecte materiaalbeheersing6 („Gaudí, Rationalist mit perfekter Materialbeherrschung“). Jos Tomlow, einer der Delfter Gaudí-Forscher, rekonstruierte später mit einer Gruppe in Frei Ottos Institut für leichte Flächentragwerke 1982–83 Gaudís großes Modell der Kirche für Colonia Güell.7
1961 brachte Joedicke den ersten Band der großartigen Reihe Dokumente der Modernen Architektur heraus: Oscar Newmans Publikation zum letzten CIAM-Kongress in Otterlo von 1959.8 Louis Kahns „Rede zum Abschluss des Otterlo-Kongresses” im Anhang war für uns eine Wegweisung. Zugleich schien sich für uns seine Frage nach dem „Wesen” einer Bauaufgabe mit Hugo Härings Wesensbegriff verbinden zu lassen, wenn auch mit anderen Ergebnissen. Nahezu gleichzeitig mit der CIAM-Publikation 1961 traf am Lehrstuhl eine dicke Papprolle von der Akademie der Künste in Berlin ein mit dem Auftrag an Joedicke, den Nachlass von Hugo Häring, der im Mai 1958 verstorben war, zu katalogisieren. Peter Lammert, der in Berlin auf Härings Dokumente gestoßen war, und Christian Plath erarbeiteten als weitere HiWis das Werkverzeichnis. Zusammen mit Heinrich Lauterbach gab Joedicke 1965 den vierten Dokumente-Band heraus, der die Zeichnungen und den größten Teil der Schriften Härings enthielt.9 Häring wurde damit als bedeutender Architekt und Theoretiker des „organhaften“ Bauens vom unbekannten und als etwas „verschroben” geltenden Baumeister in die „erste Reihe” neben Alvar Aalto, Hans Scharoun und Louis Kahn gehoben.
Es war auch 1962 oder 1963, dass wir – erst damals, muss ich zu meiner Schande sagen – „entdeckten”, dass Hermann Finsterlin, den wir seit seinen organoid-utopischen Skizzen von 1920 längst nicht mehr am Leben glaubten, nun mit 75 Jahren quicklebendig ganz in der Nähe, auf dem Frauenkopf in Stuttgart lebte. Als „Inder” verkleidet empfing er Joedicke und mich kurz vor Fasching zum ersten Mal in seinem Haus, das durch einige „anthroposophische” Profilierungen auffiel, und belustigte sich an unserem verdutzten Blick. Häufig besuchte ich ihn mit den Kommilitonen HPC Weidner und Knut Lienemann danach. Wir sahen alle utopischen Entwurfsskizzen, spielten mit seinen farbigen Bauklötzchen, hörten ihn seine Gedichte rezitieren, räumten seinen Dachboden auf und säuberten seine Gemälde für die große Münchner Retrospektive 1964. Finsterlin als ehemaliges Mitglied der Bruno Taut'schen Gläsernen Kette (1919/20) wurde mit anderen Teilnehmern dieses geheimen Zirkels und deren Architektur-Briefen in Oswald Mathias Ungers Gläserne-Kette-Ausstellung 1963 zum ersten Mal „aus der Versenkung” gehoben. Finsterlin wunderte sich allerdings beim Aufräumen, dass seine beiden Zeichnungen aus der Ausstellung nicht mehr aufzufinden waren – sie waren bei Ungers hängen geblieben. Knut Lienemann und HPC Weidner bereiteten 1966/67 mit Joedicke zusammen eine Ausstellung aller architektonischen Entwürfe Finsterlins zu dessen 80. Geburtstag vor, die zuerst an der TH Stuttgart gezeigt wurde. Lienemann sollte damals auch die Baupläne für die Realisierung eines der Gipsmodelle als Gartenpavillon (Mausoleum) eines Kunsthändlers fertigen. Daraus ist leider nichts geworden.
Die Bekanntschaft mit Finsterlin verdankten wir Rolf Gutbrod, der seit 1953 an der TH Stuttgart Professor für Entwerfen war. Gutbrod, als Anthroposoph und „Organiker” nahe an Scharouns Vorstellungen, war in der Fakultät das Gegengewicht zu den „Rationalisten” Rolf Gutbier, Curt Siegel und Günther Wilhelm. Bei Gutbrod machte ich mehrere Entwürfe, unter dessen Assistenten Roland Ostertag. Gutbrods Liederhalle von 1956, eine Architektur der Bewegungen und des dynamischen Raumes, seine Berlin-Exkursion mit uns Studenten 1962, wo wir Hans Scharoun auf der Baustelle seiner Philharmonie mit Zigarre antrafen und uns Egon Eiermann einen Tag später schwärmerisch seine nahezu fertige Gedächtniskirche bei der abendlichen Lichtprobe für die blauen Glasbausteinwände vorführte, mögen zeigen, in welch spannungsreicher und großartiger Zeit wir in Stuttgart studieren konnten. Wir lebten zwischen Gegensätzen und wir liebten und genossen es. Jürgen Joedicke fügte sich in diese heterogene Gruppe von Professoren als Vermittler ein, der für seine Ideale in einer divergierenden Moderne-Betrachtung, schließlich auch im Unterricht für Entwerfen einen wichtigen Platz finden konnte.
1962 streckte Joedicke seine Fühler zu den holländischen Architekten aus. In Seminaren erarbeiteten wir die Geschichte der De-Stijl-Bewegung. Peter Lammert und ich konnten bei der Exkursion 1962 noch den äußerst bescheidenen und resignierten J.J.P. Oud kennenlernen, der 1963 verstarb. Joedickes Freundschaft mit Jaap Bakema resultierte 1963 im dritten Band der Dokumente-Reihe, Architektur und Städtebau. Das Werk van den Broek und Bakema.10 Zur Arbeit bei Joedicke kam hinzu, dass Ulrich Conrads und Hans G. Sperlich schon 1960 ein großes Buch mit dem Titel Phantastische Architektur herausgegeben hatten. 1963 und 1964 brachte Ulrich Conrads dann die ersten 15 Bände der für uns erschwinglichen Bauweltfundamente heraus, die weitere Lücken füllten, von Programme und Manifeste über Louis Sullivans Schriften, Tauts Frühlicht-Hefte bis zu Le Corbusiers Kommende Baukunst. Wir schwammen regelrecht in Publikationen, de zeigten, wie vielfältig die Entwicklung der Architektur im 20. Jahrhundert war.
Über unser Westdeutschland hinaus öffneten uns zwei Exkursionen des Kunstgeschichtsprofessors Hans Wentzel die Augen für Osteuropa und den Nahen Osten: in Moskau die Basiliuskathedrale und die Kirchen im Kreml und in Istanbul die Moscheen Sinans, die ich zu bearbeiten hatte, weil es sonst niemand anderes tun mochte. An diesen eindrucksvollen Begegnungen nahm auch Jürgen Joedicke regen Anteil. Später wurde er zu Vorlesungsreihen in Istanbul eingeladen und die Moscheen Sinans erhielten 1985 in seinem Buch Raum und Form in der Architektur11 ihren Platz.
Peter Zerweck schleppte mich 1959 in die Vorlesungen Max Benses. Bis zu meinem Studienende war der Montagabend von 18:45 bis 20:15 Uhr für dessen Vorlesungen reserviert. Aus Benses Semiotik entwickelte ich in Japan meine 1973 fertiggestellte Dissertation Environmental Considerations on Manmade Environment. Sie erlangte nicht Benses volle Zustimmung. Er schloss sie weg, schrieb aber ein Gutachten zu meiner Bewerbung in Aachen 1974. Die Mitarbeit bei Jürgen Joedicke befähigte mich, im Wintersemester 1965/66 für ein halbes Jahr an der HfG in Ulm das Jahresprogramm der Vorlesung „Geschichte und Kritik der modernen Architektur“ durchzuführen. Danach aber entschwand ich nach Japan, auch Horst Höfler.
Von 1975 bis 2003 war ich Professor für Architekturtheorie an der RWTH Aachen. Eines der Themen von Vorlesungen und Seminaren war die Geschichte der Architektur des 19. und 20. Jahrhunderts. Auch wenn ich andere Schwerpunkte setzte und andere Interessen verfolgte als Joedicke, so war doch die Arbeit bei ihm zu meiner Studienzeit das Fundament für meine Arbeit in Aachen. Dass meine wichtigste Publikationstätigkeit die Herausgabe der Schriften von Bruno Taut wurde, war nicht vorauszusehen gewesen und ist nicht ganz ohne eine gewisse Ironie. Bruno Taut war für Joedicke, im Vergleich zu seinem Bruder Max, ein „Unentschiedener”, nicht hundertprozentig "Moderner". Das mag ein Grund dafür gewesen sein, dass Fotos der berühmten Hufeisensiedlung in Berlin mit der Mischung von dreigeschossigen Flachdachbauten und zweigeschossigen Satteldach-Reihenhäusern in gebrochenen Straßenlinien in keinem seiner Bücher zu finden sind. Von den farbigen Fassaden ganz zu schweigen
Manfred Speidel war von 1975 bis 2003 Professor für Architekturtheorie an der RWTH Aachen.
1
Zuerst erschienen als Jürgen Joedicke: Geschichte der modernen Architektur: Synthese aus Form, Funktion und Konstruktion. Stuttgart: Verlag Gerd Hatje, 1958. Zahlreiche Übersetzungen und Neuauflagen.
2
Wolfgang Pehnt: Die Architektur des Expressionismus. Stuttgart: Hatje, 1973, S. 7.
3
Nikolaus Pevsner: Wegbereiter moderner Formgebung: Von Morris bis Gropius. Hamburg: Rowohlt, 1957.
4
Curt Siegel: Strukturformen der modernen Architektur. München: Callwey, 1960.
5
Jürgen Joedicke: „Willkür und Bindung im Werk von Antonio Gaudí“, in: Bauen + Wohnen 1960 (Bd. 14), S. 181–187.
6
Gaudí-groep: Gaudí, Rationalist met perfecte materiaalbeheersing. Delft: Delftse Universitaire Pers, 1979.
7
Jos Tomlow: Das Modell. Antonio Gaudís Hängemodell und seine Rekonstruktion – neue Erkenntnisse zum Entwurf für die Kirche für Colonia Güell (=Mitteilungen des Instituts für leichte Flächentragwerke 34). Stuttgart: Institut für leichte Flächentragwerke, 1989.
8
Oscar Newman: CIAM ´59 in Otterlo (=Dokumente der Modernen Architektur 1). Stuttgart: Karl Krämer, 1961.
9
Heinrich Lauterbach, Jürgen Joedicke: Hugo Häring: Schriften, Entwürfe, Bauten (=Dokumente der Modernen Architektur 4). Stuttgart: Karl Krämer, 1965.
10
Jürgen Joedicke, Franz Füeg: Architektur und Städtebau: das Werk van den Broek und Bakema (=Dokumente der Modernen Architektur 3). Stuttgart: Karl Krämer, 1963.
11
Jürgen Joedicke: Raum und Form: über den behutsamen Umgang mit der Vergangenheit. Stuttgart: Karl Krämer, 1985.