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Ach so, „MLH Bau“ steht für Marxistisch-Leninistische Hochschulgruppe Bau. Nikolaus Kuhnert reicht mir noch ein weiteres handgezeichnetes Diagramm rüber. Und „KU“ war die so genannte Kritische Universität in Berlin: Springerkampagne, Dutschke und so weiter. „SDS“ ist klar.1 Dann geht da ein Pfeil zu „B“ und „AC“. Diese Kürzel stehen für die ARCH+-Fraktionen aus Berlin und Aachen. Soweit alles verständlich. Ziemlich linksradikal, ziemlich zeitgenössisch – damals. An der Wand hängen wie immer schon gerahmte Architekten-Handskizzen auf Papierservietten. Eine sieht schwer nach Aldo Rossi aus. Ich verlasse mit einem Stapel Kopien in der Tasche das Café Aedes am Savigny-Platz in Berlin-Charlottenburg.
Um sich ein Bild von den damaligen politischen Richtungskämpfen der Linken zu machen, die sich in der Redaktionspolitik der Architekturzeitschrift ARCH+ spiegelten, ist die Austrittserklärung der Berliner Redaktionsmitglieder Klaus Brake, Helga Fassbinder und Renate Petzinger von 1977 sehr aufschlussreich. ARCH+ als „Organ politisch-theoretischer Diskussion“, das „orientierend gegenüber der sozialen Bewegung in den Städten wirkt“, sollte sich ihrer Auffassung nach mit der „Bezugnahme auf die entwickelte Arbeiterbewegung und ihrem organisatorischen Ausdruck in der gewerkschaftlichen, sozialistischen und kommunistischen Bewegung in der BRD“ befassen.2 Das wurde aber, schrieben die Austretenden, von ihren Kolleg:innen als zu dogmatisch abgetan.
Diese fühlten sich eher den Bürgerinitiativen verbunden, die sich damals überall herausbildeten und aktivistisch in Sachen Umweltschutz, Wohnungs- und Stadtteilpolitik engagierten. Den von dieser Redaktionsmehrheit durchgesetzten Abdruck unkritischer Artikel aus basisdemokratischen Gruppen hielten die Abweichler jedoch für politisch falsch. Darin würde „in nahezu klassischer Verkehrung die Frage der Aneignung der räumlichen Umwelt zum Springquell politischer Bewusstseinsprozesse erhoben“ und „die Selbstbefreiung der Bürger und Architekten in Selbsthilfe, ästhetischer Selbstverwirklichung und der unvermittelten Rückkehr zur kulturellen Eigenart propagiert“.3 Kurz: Die Austretenden beklagten eine fortschreitende Entpolitisierung der Zeitschrift, die sich ihrer Meinung nach aus ökonomischen Gründen auf eine kaufkräftigere Klientel mit bürgerlichen Existenzvorstellungen zubewegte. Die „Klassenlage der Fachleute“, und wie diese sich in Bezug auf die politischen Kämpfe der Gewerkschaften positionieren sollten, bliebe darum weitgehend unberücksichtigt.
Wie aber kamen die Redakteur:innen damals überhaupt auf die Idee, dass solche Probleme in einer Architekturzeitschrift behandelt werden sollten? Warum sollten sich Macher:innen oder auch Leser:innen einer Architekturzeitschrift mit ihrer Klassenlage und mit Strategien politischer Organisation befassen? Auch in den 1970er Jahren war dies extrem unüblich – wie ein Blick in Bauwelt, Werk, Bauen + Wohnen, archithese oder auch Architectural Design belegt.
I. Studierendenzeitschrift für Hochschulprobleme
Die an der Architekturfakultät der damaligen Technischen Hochschule Stuttgart bereits Ende 1966 gegründete4 Zeitschrift ARCH+ bezeichnete sich im Untertitel ihrer ersten offiziellen Ausgabe 1968 zunächst als „Studienhefte für architekturbezogene Umweltforschung und -planung“. Während der zweite Teil des Titels ganz treffend ein analytisches Verhältnis zur Architektur beschrieb, verwies die Bezeichnung „Studienheft“ auf die intensive Auseinandersetzung mit Fragen der Architekturausbildung. Das von Assistent:innen und Studierenden gegründete Heft wollte in die damals stattfindende Studienreform intervenieren. So erschienen seit November 1967 zunächst die ARCH+ Informationen – ein anarchistisches, beidseitig bedrucktes Din-A4-Flugblatt, das von der Fachschaft Architektur verteilt wurde und eine schnelle Kommunikation über Studienfragen ermöglichen sollte. Auf dem Blatt wurden mitgebrachte Veranstaltungshinweise, Zeitungsausschnitte, Slogans, Hochschulinterna und Polemiken mit Schere und Klebstoff im grafischen Stil eines Erpresserbriefs zusammengestellt und kopiert.5
Auch im inzwischen parallel erscheinenden, wesentlich seriöser aufgemachten Heft fanden sich primär Artikel zur Ausbildung. ARCH+ war eine streng gesetzte Bleiwüste, die statt eines Covers ihr Inhaltsverzeichnis exponierte. Darin wurden konkrete Vorschläge zur Studienreform, Berichte über neue Tendenzen in der Lehre und das Berufsbild ganz allgemein angekündigt. Neben einem „Versuch der belegbaren Beurteilung von Studentenarbeiten“ mittels Matrixbildungen wurde auch eine skurrile „pädagogische Kybernetik“ ausführlich erörtert, die mittels „apparativer Lehrhilfen“ die Lerneffektivität steigern sollte. So könnten beispielsweise Glühbirnen einer Anzeigetafel am Richtpult der Dozent:innen anzeigen, welche Studierenden auf welchen Plätzen die richtige Antwort eingegeben haben.6 In den Texten dieser Anfangszeit war noch euphorisch vom „Raumfahrtzeitalter“ die Rede, und dass vor diesem Hintergrund das „uneffektive Amateurdasein“7 der Planer:innen durch eine wissenschaftlich-technische Ausbildung abgelöst werden müsse.
Bereits früh traten unterschiedliche Auffassungen von der Rolle der Wissenschaft auf, und es gab differierende politische Selbstverständnisse einer aus der Studierendenenschaft erwachsenden Zeitschrift.8 In Heft 7 kritisierte die Redaktion die etablierte Macht- und Rollenverteilung in der Lehre und sprach von der Notwendigkeit der „Selbstorganisation des Studiums“.9 Die Reflexion der eigenen Studienbedingungen politisierte die Studierendenschaft, die auch beeinflusst wurde durch die politisch motivierte Schließung der Hochschule für Gestaltung (HfG) Ulm im Jahre des ersten Erscheinens der ARCH+.10 Später schlug die technisch-wissenschaftliche Ausrichtung der Ulmer HfG teilweise inhaltlich wie auch personell in Stuttgart durch. Eine der letzten Konferenzen in Ulm war 1966 „The Teaching of Design – Design Methods in Architecture“.
II. Stuttgart und die Methodik
Mit dem Schwerpunkt Architekt:innenausbildung zeichneten sich bereits in der Anfangszeit zwei Entwicklungsrichtungen der Zeitschrift ab. Einerseits wurde in der Auseinandersetzung mit praktischen Fragen des Studierens naheliegenderweise auch das Selbstverständnis der Profession und damit die gesellschaftliche Rolle von Architekt:innen problematisiert. Andererseits rückte im Kontext der Studienreform und ihrer Kritik die Aufgabe der Wissensvermittlung – der Wissenschaftlichkeit von Architektur überhaupt – ins Zentrum. Aus dem Anliegen einer objektiven Begründ- und Kritisierbarkeit von Architektur entstand die Forschungsrichtung der Planungs- und Entwurfsmethodik. In dieser Widersprüchlichkeit der Interessen und des Selbstverständnisses war ein entscheidender Konflikt angelegt, der bis zur erwähnten Austrittserklärung zehn Jahre lang mit unterschiedlichen Schlagseiten in ARCH+ ausgetragen wurde. Vereinfacht gesagt ging es darum, ob man die eigene gesellschaftliche Rolle oder die Möglichkeiten gesellschaftlichen Handelns thematisiert; ob man sich mehr mit der Suche nach der richtigen Haltung oder nach den richtigen Verfahren befassen wollte, ob man eher an die Politik oder an die Wissenschaft glaubte. Der Unterschied war aber zunächst kaum benennbar.
Das Eingangsstatement zur ersten Ausgabe 1968 lautete: „ARCH+ ist keine Fachzeitschrift, sondern eine Problemzeitschrift. Das Problem ist, wie Erarbeitung und Einsatz der zur Umweltgestaltung notwendigen Hilfsmittel – Forschung und Planung – erfolgen sollen.“11 Diese Erklärung ließ darauf schließen, dass zunächst das Interesse an Entwurfs-, Planungs- und Baumethodik und damit an der wissenschaftstheoretischen Analyse von Architektur und Umweltgestaltung dominierte, was nicht zuletzt von diversen Lehrstühlen der Universität Stuttgart gestützt wurde. Jürgen Joedicke, der 1967 das „Institut für Grundlagen der Modernen Architektur“ gründete, befasste sich intensiv mit der Formalisierung des Planungsprozesses. In seiner Antrittsvorlesung definierte er die Rolle der Architekturkritik als Teil des Planungsablaufes.12 Er forderte, die Planung architektonischer Objekte durch wissenschaftliche Methoden zu objektivieren. Die Vortrags- und Publikationsreihe Arbeitsberichte zur Planungsmethodik, die Joedicke ab 1969 herausgab, transportierte die internationale Diskussion in den deutschsprachigen Raum und etablierte die Planungsmethodik in Forschung und Lehre. Der Mathematiker und Physiker Horst Rittel, der bereits an der HfG Ulm unterrichtet hatte und ab 1963 Architekturprofessor in Berkeley war, lehrte bereits einige Jahre in Stuttgart, bevor er 1973 Direktor des „Institut für Grundlagen der Planung“ wurde. Rittels wissenschaftstheoretische Forschung zu den Dilemmata der Planung und dem „bösartigen“ Charakter von Planungsproblemen, die durch die Erfahrungen in den USA angeregt wurde, beeinflusste viele Studierende und Kollegen.13 Und um Max Bense, der damals den Lehrstuhl für Philosophie und Wissenschaftstheorie innehatte, hatte sich in den 1950er Jahren die offene „Stuttgarter Schule“ gebildet. Sie befasste sich in den Bereichen Literatur und Bildende Kunst mit Semiotik, Informationsästhetik und Fragen der Programmierbarkeit. Ihre Aktivitäten schufen an der Universität und im kulturellen Umfeld Stuttgarts ein Klima der experimentellen Forschung und der Verknüpfung von Wissenschaft und Kultur, das international beachtet wurde. Bense war Ende der 1960er Jahre eine Figur des öffentlichen Lebens, bei dessen „höchst glamourösen“14 Veranstaltungen und Vorlesungen sich neben Studierenden, wie den Begründer:innen der ARCH+,15 auch die Kunstszene, Architekt:innen und schwäbische Unternehmer einfanden, Leute, für die „links zu sein“ bedeutete, „an die Mathematik zu glauben, für den technischen Fortschritt zu sein“.16
In diesem Kontext stand auch der ARCH+-Beitrag von Benses Assistent Siegfried Maser über die Systematisierung von Methoden, der mehr Formeln als Fließtext enthielt.17 Maser arbeitete darin das Anliegen der Kybernetik heraus, Regelprozesse für komplexe Systeme zu entwickeln und verwies auf die Möglichkeiten, ästhetische Prozesse wissenschaftlich zugänglich zu machen. Dieser Einfluss Max Benses, der auch eigene kürzere Artikel zu Fragen der Semiotik in der räumlichen Gestaltung18 beisteuerte, schlug sich auch in den spärlichen „Abbildungen“ der frühen ARCH+ nieder. Nachdem in ARCH+ 2 drei ganzseitige Fotos von Papierfaltwerken mit strengem grafischem Muster zu finden waren, startete 1969 eine kurze Reihe „visueller Projekte“ aus dem Bense-Umfeld. Darin zeigten Rainer Kallhardt19, Georg Nees20 und Hartmut Böhm21 mathematisch-methodisch konstruierte Grafiken und erläuterten deren Entstehung. Optisch passten diese Grafiken gut zum Rest der Zeitschrift: nur Texte, Tabellen und unzählige Diagramme.22
III. Wissenschaft, Partizipation und Politik
Bereits in der dritten Ausgabe der ARCH+, als sich die Methodendiskussion gerade langsam entfaltete und von den Studienfragen emanzipierte, zeichnete sich ab, wie später das zentrale Feld der Auseinandersetzungen aussehen sollte. Der erste explizit politische Text erschien. Dabei handelte es ich um Jörn Janssens Vortrag, den er bereits im Dezember 1967 auf dem von Oswald Mathias Ungers veranstalteten Symposium „Architekturtheorie“ gehaltenen hatte und der von den Studierenden der Technischen Universität Berlin bejubelt worden war,23 als er das Konferenzthema „Probleme der Architekturtheorie und Architekturkritik“ polemisch und wohlbegründet in „Geheimnisse der Ideologie und des Geschmacks in der Architektur“ umbenannt hatte.24 Nach der Ermordung Benno Ohnesorgs während der Proteste gegen den Schahbesuch, der Inhaftierung Fritz Teufels und der Verhängung eines Demonstrationsverbotes war Berlin in Aufruhr. Auf der Schlussveranstaltung entrollten damals Studierende vor den Augen des als Redner geladenen Sigfried Giedion Transparente mit der Aufschrift „Alle Häuser sind schön, hört auf zu bauen“.25
Im Einklang mit der planungsmethodischen Positionierung der ARCH+ legte Janssen den pseudowissenschaftlichen Charakter von Architektur offen. Eine systematische Erforschung der bauspezifischen Probleme war für ihn erst denkbar, wenn „Planung als eigengesetzliche Tätigkeit und nicht als unvermeidliches Anhängsel [...] gestalterisch willkürlicher Entwerferei“26 betrieben würde. Auch er argumentierte für eine Verwissenschaftlichung der Bauplanung. Aber sein Ton war anders. Er sprach explizit von Ideologie und Herrschaftsansprüchen und thematisierte die Perspektive der Betroffenen.
In einem Bericht über das Studium in Berkeley und die gewaltsamen Auseinandersetzungen um den People’s Park fanden bald Hinweise auf Anwaltsplanung und Partizipation den Weg in die ARCH+.27 In den folgenden Heften wurde das von Paul Davidoff 1965 dargelegte Konzept des „Advocacy Planning“28 aufgegriffen und kritisiert.29 Es eignete sich wie die Diskussion um demokratische Planung und Mitbestimmung als Diskursfeld der Politisierung entwerferischer Methoden. Beide Konzepte stellten eigentlich Planungsmodelle dar, die zunächst aus inhärenten Engpässen und Mängeln der klassischen Verfahren hergeleitet wurden. Beide standen aber auch in engem Bezug zur sozialen Wirklichkeit und waren darauf angelegt, die politischen Ansprüche der Betroffenen zu repräsentieren. In dieser Doppelfunktion bildeten sie diskursive Kreuzungspunkte in der sich abzeichnenden Kontroverse zwischen wissenschaftlicher Theorie und emanzipativer Politik.
Exemplarisch für das Nebeneinander von Ideologiekritik, Wissenschaftlichkeit und pragmatischem Interesse an Planungsfragen ist ein 1970 erschienener Artikel von Stephan Brandt. Er plädierte für eine Demokratisierung der Planung durch nutzerbezogene Kommunikation, sah allerdings die „Gefahr der Verselbstständigung des Subsystems zweckrationalen Handelns zu einem technokratischen Verwaltungsapparat“.30 Den gut gemeinten Ansätzen demokratischer Planung warf er vor, emanzipatorische Forderungen zu domestizieren. Dabei ging er ausführlicher auf das „Rittelsche Planungsmodell“ ein. Er kritisierte dessen inhärente Mängel, die es zum „Instrument der Manipulation“ pervertieren ließen. Eine der wenigen ausführlichen Darstellungen des Ansatzes Horst Rittels – eigentlich eine kommentierte Seminarmitschrift – geriet überraschend zur Grundsatzkritik. Der Text war eine ernsthafte Auseinandersetzung mit objektivierten demokratischen Planungsstrategien und gleichzeitig von einer politischen Haltung geprägt, die diese Herangehensweise prinzipiell verdächtigte. So erwähnte der Autor raunend die „Perfektionierung der Techniken der Verhaltenskontrolle, der genetischen Steuerung und der Anwendung und Wirkung neuer Drogen.“31 In dieser Zuspitzung zeigte sich die Unsicherheit einer Generation, die auf der Suche war nach belastbaren Theorien und nach einem politischen Selbstverständnis als Planende.
Auch der im folgenden Heft enthaltene Text Rittels deutet in ungleich milderem Ton auf eine Verschiebung des methodischen Forschungsinteresses hin. Er arbeitete heraus, dass Planungsentscheidungen prinzipiell nicht vollständig auf wissenschaftlich begründbare Prämissen zurückführbar seien, da sich den Planenden die grundsätzliche Frage stelle, was „gesollt werden soll“.32 Dem Dilemma, für andere zu planen, sei daher nur durch eine weitgehende Nutzerbeteiligung zu begegnen. „Die Konsequenz ist die Demokratisierung des Planungsprozesses – schon aus methodologischen Gründen.“33 Rittel forderte eine Politisierung der Planung durch die Entwicklung von Gegenplänen, Mitbestimmung, Anwaltsplanung, Selbstplanung oder offene kommunikative Verfahren. Der Dreiklang aus wissenschaftlichem Ansatz, methodisch begründeter Demokratisierung und Forderung nach Politisierung entsprach Ende der 1960er Jahre dem internationalen Diskussionsstand des sogenannten „Design Methods Movement“.
Den Doppelbezug von wissenschaftlichem und politischem Anspruch im „Wissenschaftlichen Sozialismus“ legte Hans-Jürgen Krahl, Adorno-Schüler und prominentes Frankfurter SDS-Mitglied, in seinem Artikel über „Strategien sozialrevolutionärer Prozesse in den Metropolen“ nachträglich offen. Darin äußerte er erstmals deutliche Kritik: „Während Marx den Wissenschaftlichen Sozialismus in Opposition zum utopischen Denken entwickelte [...], hat sich heute das Verhältnis nahezu verkehrt. Es gilt in Opposition zum bestehenden Wissenschaftsbetrieb die Begriffe konkreter Utopie zuallererst zu rekonstruieren.“ Und das auf der Basis der „praktischen Erfahrungen des politischen Kampfes“.34
IV. (Revolutionäre) Praxis
Von dieser praktischen Dimension des politischen Kampfes zeugte auch ein im Juli 1970 in ARCH+ publiziertes Gutachten zur Sanierung Schönebergs. Es brachte erstmals Grundrisszeichnungen in die ARCH+ und begann mit einem politischen Bekenntnis: „Der Planer als intellektueller Lohnarbeiter ...“ – „Wie der Fabrikarbeiter hat auch er die Produktionsmittel nicht in seinen Händen.“35 Das war ziemlich verkürzt, aber stark und deutete einen doppelten Umbruch an. Die Präsentation eines konkreten architektonischen Projektes reagierte auf die Selbstreflexion der Handlungsmöglichkeiten, während die neue Thematisierung des lohnabhängigen Planenden das Selbstverständnis von einer neuen Seite her reflektierte. Vor der Anforderung praktisch-politischer Arbeit als Architekt:in und Planer:in schienen sich diese beiden Grundfragen der ARCH+ nach der gesellschaftlichen Rolle und den daraus resultierenden Handlungsmöglichkeiten zu klären. Im Kontext der Sanierungspolitik glaubte man die (Arbeiter-)Bevölkerung unterstützen zu können, und den Architekten als Lohnarbeiter sah man tendenziell selbst als Teil dieser Klasse an. Über diese Konstruktion schien es möglich, verschiedene sich entwickelnde Varianten der politischen Ökonomie nach Marx im Architekturdiskurs zu verankern und Eingriffsfelder in den zeitgenössischen gesellschaftlichen Auseinandersetzungen zu bestimmen. Das neue Primat der Praxis verschob den redaktionellen Schwerpunkt hin zu politischen Fragen. Wissenschaftlichkeit stand unter dem Verdacht der Wirkungslosigkeit und so zerfiel die als selbstverständlich angenommene Einheit von emanzipativer Politik und wissenschaftlicher Methode.
Rückblickend beschrieben die Herausgeber:innen die ersten zwei Jahrgänge der ARCH+ als an den „neuen Wissenschaften wie Kybernetik, System-, Entscheidungs- und Werttheorie, Operations Research und Planungsökonomie“ orientiert. Sie kamen inzwischen aber zu dem Schluss, dass diese „Theorien zur Verwissenschaftlichung“ systemstabilisierende Herrschaftstechniken seien. Diese hätten mit der tatsächlichen Berufspraxis nichts zu tun gehabt und mündeten lediglich in die Forderung nach der „Verwissenschaftlichung des Studiums“.36 Die Redaktion bemühte sich verstärkt um einen glaubwürdigen Praxisbezug außerhalb der Hochschulen. Ein Aufruf an die Planungsbüros bat um die Einsendung von Projekten, bei denen Demokratisierungsansätze eine Rolle spielten. Der theoretisch abgehobenen planungsmethodischen Diskussion und ihrer ebenso theoretischen ideologiekritischen Verdammung sollte differenziertes praxisbezogenes Material entgegengestellt werden.37
Im Januar 1972 bekam ARCH+ einen neuen Untertitel: „Studienhefte für Planungspraxis und -theorie“. Theorie und Praxis klang etwas marxistischer und philosophischer als das vielleicht inzwischen zu technikoptimistische „Umweltforschung und -planung“. Der ideologisch verdächtige Begriff „Architektur“ war erst mal raus. Inzwischen hatte sich eine öffentliche selbstreflexive Diskussionskultur entwickelt, die fast zwangsläufig auf die eingangs erwähnten Konflikte und Fraktionierungen hinzusteuern schien. Immer grundsätzlicher wurden die aufgeworfenen politischen Fragen. Immer konsequenter auch die Antworten. In einem Editorial in eigener Sache argumentierten die Herausgeber:innen nun auf der Basis des Marxistischen Hauptwiderspruchs zwischen Produktionsverhältnissen und Produktivkräften. Sie betonten dabei die wichtige Rolle der „Produktivkraft Wissenschaft“38 für den Klassenkampf. Die erst kurz zuvor in Frage gestellte Verbindung zwischen theoretischer Methodendiskussion und praktischem Widerstand wurde so erneut hergestellt. In Gestalt neuer Redaktionsmitglieder aus Berlin brach die dort besonders zugespitzt artikulierte Politisierung der Architektur endgültig in die Zeitschrift ein.
V. „Es geht nicht, dass wir hier reden, während Kreuzberg abgerissen wird.“
Damit wurde aber auch alles wahnsinnig kompliziert, und man scheint den Entwicklungen jener Zeit heute anhand der publizierten Texte und Erklärungen kaum mehr beizukommen. So wurde wiederholt ein Treffen mit dem aktuellen Chefredakteur der ARCH+, Anh-Linh Ngo, und dem langjährigen Redakteur und Herausgeber Nikolaus Kuhnert notwendig. In Bezug auf die „Berliner Phase“ und die dort ausgetragenen politischen Konflikte gibt es verschiedene Auffassungen, und ich habe noch viele Fragen. In einem Lokal in Berlin-Mitte sprechen wir darüber, wie das Verhältnis von Wissenschaftseuphorie und linker Politik Anfang der 1970er Jahre nicht nur in der ARCH+ zerbrach, über einen Besuch damals bei Manfredo Tafuri und über die Rolle der „distinkten Arbeiterpartei“ DKP in Deutschland. „Wir alle haben unsere Kapitalschulung gemacht“, sagt Kuhnert. Und heute? Statt Kampfgeist herrscht inzwischen Rauchverbot.
Die in der ARCH+ Anfang der 1970er Jahre exzessiv geführten Auseinandersetzungen zwischen einer undogmatischeren und einer dogmatischeren Linken, zwischen einer stärker an Bürgerbewegungen und einer mehr an gewerkschaftlicher Praxis orientierten Gruppe, zwischen einer den neuen alternativen Milieus und einer enger mit der DKP verbundenen Haltung, waren kein hausgemachtes Problem der ARCH+. Sie entsprachen vielmehr den Suchbewegungen einer gesellschaftlich erfolgreichen und zugleich zerfallenden Linken. Wie Kuhnert gehörte die dritte heutige Redakteurin und Mitherausgeberin Sabine Kraft damals zum undogmatischen Flügel. Als ich ihr am Tag drauf auf einer Konferenz des Bauhaus Dessau begegne, deutet sie auf meinen Text bezogen an, dass sie die politischen Auseinandersetzungen, die in dem erwähnten Austritt gipfelten, heute nicht mehr für bedeutsam halte.
Auch Helga Fassbinder, eine der damals Ausgetretenen, wundert sich über meinen Anruf. Die Berliner Debatten, in die sie am ehemaligen Lehrstuhl Ungers verstrickt war, handelten weniger von Planungstheorie.39 „Das Thema war für uns die kritische Durchleuchtung der Architektenideologie.“40 Dazu gehörten beispielsweise die Analyse der Bauproduktion und die Fragen des Grundeigentums oder der Lohnarbeit, wie sie in den Coop-Seminaren verschiedener Assistent:innen an der TU Berlin wiederentdeckt wurden. Fassbinder betont, dass man zu diesem Wissen der 1920er Jahre damals in West-Berlin keinen Zugang mehr hatte und es erst mit einer mühevollen Kapitallektüre erarbeitet werden musste. Es seien aufregende Neuentdeckungen für diejenigen gewesen, die danach fragten, welchen Beitrag Architektur und Städtebau im Kontext der politischen Kämpfe leisten könnten.
So hatte Fassbinder 1969 zusammen mit Rolf Czeskleba die „Basisgruppe Sanierungsgebiet Kreuzberg“ initiiert. Sie trug ihre Empörung über die dort begonnene Kahlschlagsanierung in ihr Hochschulseminar an der TU Berlin, mit dem Ergebnis, dass sie gemeinsam nach Kreuzberg gingen und einen Laden in der Naunynstraße am Oranienplatz anmieteten. Nach Betriebsschluss klingelten die Architekturstuden:innen an den Wohnungstüren und informierten die Bewohner:innen über die zu erwartenden Veränderungen. Sie waren mit ungläubigen Reaktionen und erbärmlichen Wohnverhältnissen konfrontiert und setzten sich für die lokale Mieterselbstorganisation ein in einem von Verfall, Räumung, Abriss, Umsiedelung und Mietsteigerung betroffenen Stadtteil. Das Desinteresse der betroffenen Bevölkerung, die praktischen Schwierigkeiten der Mobilisierung und die Wirkungslosigkeit der Proteste wurden von Fassbinder damals sehr selbstkritisch eingeschätzt.41 Ihrer Auffassung nach dürfe sich die politische Arbeit von Planenden nicht lediglich gegen die Erscheinungsformen von Kapitalstrategien richten, sondern müsse sich in den „Zusammenhang des organisierten Kampfes der Arbeiterklasse gegen die Bourgeoisie“42 stellen. Fassbinder erinnert sich während unseres Telefonats aber, dass die TU-Gruppe trotz solch klarer Stellungnahmen damals „in die Refo-Ecke gestellt“43 wurde und sich bald die radikalere „Rote Gruppe Bauarbeiter“ abspaltete. Das sind natürlich Feinheiten.
Nach dem Gespräch mit Helga Fassbinder schnell zur TU Berlin. Kuhnert hatte mir bei unserem letzten Treffen ein Fax mitgegeben, das leider unlesbar ist. Lediglich der Absender ist mit Bodenschatz klar zu entziffern. Darunter steht Bauwelt 37/1968 und Harald mit einer Telefonnummer. Unter dem vielen Weiterfaxen hat der Inhalt stark gelitten. Ich besorge mir den Originalartikel in der TU-Bibliothek. Dieser von Hans Scharoun entworfene Bau war 1968 noch im Rohbauzustand, als ihn junge Architekt:innen, Student:innen und wissenschaftliche Mitarbeiter:innen für die Protestausstellung „Diagnose zum Bauen in West-Berlin“ nutzten. Davon handelt auch das unlesbare Fax. Und darum geht es auch gleich auf einer von Harald Bodenschatz konzipierten Konferenz über die Impulse der TU Berlin für den Städtebau, zu der ich auf dem Weg bin.44
Als Rednerin ist neben dem letzten Berliner Senatsbaudirektor Hans Stimmann und dem Raumplaner Max Welch Guerra die Architektin und Grünen-Politikerin Franziska Eichstädt-Bohlig geladen, die über den damaligen Versuch referiert, zeitgleich zu den Berliner Bauwochen eine kritische Öffentlichkeit zur Baupolitik herzustellen. Anhand von Schaubildern sollte über die Machenschaften von Politik und Wohnungswirtschaft aufgeklärt werden. Eichstädt-Bohlig projiziert das Ausstellungsplakat, auf dem sich hakenkreuzartig vier Arme verschränken, die jeweils mit „Senat“, „Baugesellschaft“, „Spekulanten“ und „Architekten“ beschriftet sind.
Anlässlich der Eröffnung von Diagnose erschien die so genannte Planerflugschrift, die von Marc Fester, einem führenden Kopf des späteren Aachener ARCH+-Flügels, verfasst wurde. Das Pamphlet forderte neben einem selbstverantworteten Studium mit kooperativer und interdisziplinärer Ausrichtung eine theoretisch-methodische Ausbildung.45 Es war ein kybernetisch geprägter Vorschlag für die hochschulinterne Demokratisierung der Ausbildung. Von missbilligenden Zwischenrufen Hans Stimmanns begleitet, vertritt Max Welch Guerra in dem von grauhaarigen Herren überfüllten Raum die These, dass die Planerflugschrift kein marxistisches Manifest war. Sie sei vielmehr dem damaligen breiten gesellschaftlichen Modernisierungsprozess der Verwissenschaftlichung und Demokratisierung gefolgt und habe der neuen Experten- und Planungskultur der BRD entsprochen. Die Planerflugschrift basierte in der Tat auf den Thesen des von der Heidelberger „Studiengruppe für Systemforschung“ herausgegebenen Sammelbands über amerikanische Forschungsplanung.46 Die Verfasser:innen zitierten mehrfach Horst Rittel und lehnten ihre Argumentation an den dort veröffentlichten Artikel Jürgen Habermas’ über „Verwissenschaftlichte Politik“47 an. Die Studiengruppe war zu dieser Zeit bereits intensiv mit der Politikberatung für die Bundesregierung befasst und entwickelte beispielsweise ein Programm für die Reorganisation der Kommunikationsstrukturen des Kanzleramts.
Die Planerflugschrift bildete sich aus dem Arbeitskreis 20 „Architektur und Gesellschaft“ heraus, dem damals einzigen der „Kritischen Universität“ an der TU Berlin.48 Diese wurde im Wintersemester 1967 an der Freien Universität Berlin gegründet und verstand sich als selbstorganisiertes Gegenmodell zu den als reaktionär eingeschätzten öffentlichen Lehranstalten. In der Einleitung ihres ersten Programms betonten auch sie noch die politische Bedeutung der Wissenschaften: „Je intensiver der theoretische wissenschaftlich-technologische Fortschritt sich zu entfalten und sozial in seinen Subjekten zu organisieren vermag, desto eher kann die Wissenschaft [...] wieder zu einer emanzipatorischen historischen Kraft werden.“49 So befasste sich auch das Programm der kritischen Architektur-Arbeitsgruppe primär mit den gleichzeitig in der Stuttgarter ARCH+-Zeit verhandelten Themen Planungsmethodik, Entscheidungsmodelle und Informationsästhetik.50
Hans Stimmann spricht in der sich anschließenden Diskussion von „Nikolaus, Marc und Sabine“ und bekennt, das Studium bei ihnen als „Befreiung“ empfunden zu haben. Im Nachhinein sehe er darin aber eher die fatale „Abschaffung einer Disziplin“ und einen „Verlust des Werkcharakters“ von Architektur. Auch Eichstädt-Bohling findet das inzwischen sehr „verkopft, abstrakt und theorielastig“, weswegen wohl auch die meisten andere Wege gegangen seien.
Manche nahmen zunächst den Umweg der radikalisierten politischen Aktion. Am 3. Februar 1969 warfen Studierende im Rahmen eines „Go-In“ Molotow-Cocktails in das unbesetzte Rektorat der TU und des Dekanats der Architekturabteilung51 und 1970 gründete sich die „Rote Zelle Bau“. Sie kritisierte den bürgerlichen Wissenschaftsbetrieb und forderte Stellen für „sozialistische Dozenten“.52 Der Berliner Senat dagegen erließ ein generelles Verbot für Datenerhebungen jeglicher Art im Märkischen Viertel.53
VI. Berliner Klassenbewusstsein
Vor dem Hintergrund dieser Ereignisse schlossen sich 1972 neben der bereits erwähnten, aus Berlin stammenden Aachener Fraktion die Berliner:innen Klaus Brake und Helga Fassbinder den Stuttgartern Wolfgang Ehrlinger, Christoph Feldtkeller und Jörg Pampe an.54 Kurz darauf wechselte die ARCH+ zum Berliner Verlag für das Studium der Arbeiterbewegung (VSA). Auch die Redaktionssitzungen fanden nun oftmals in Berlin statt.55 In Heft 20 bekannte ein von allen Redakteur:innen gemeinsam unterzeichnetes Editorial: „Als Hauptaufgabe einer politisch engagierten Fachzeitschrift [...] sehen wir Kritik [...] als Grundlage für die politische Praxis, wie sie von Marx im System der politischen Ökonomie entwickelt worden ist.“56
Mit diesem Verständnis von Kritik schien sich ARCH+ allerdings in eine argumentative Sackgasse zu theoretisieren – zumindest als Architekturzeitschrift. Die Frage nach den „Möglichkeiten politischer Arbeit von Architekten“ – sicher die zentrale Frage der ARCH+ jener Zeit – wurde zunehmend negativ beantwortet.57 Die Hoffnung, Berufstätigkeit und politisches Engagement gleichsetzen zu können, wurde als illusorisch abgetan. Aufgrund der arbeitsteiligen Organisation eines Großteils der Architek:innen in Architekturgroßbetrieben bewegte sich die Fragestellung von den Inhalten der Arbeit weg und wurde auf die Klassenfrage der Lohnabhängigkeit von Architekt:innen zugespitzt. Die so begründete scharfe Trennung von gesellschaftlicher Rolle und professioneller Tätigkeit und der damit verbundene Abschied von Wissenschaft zugunsten von Politik war streng genommen auch ein Abschied vom Diskursfeld „Architektur“. So attraktiv in der Anfangszeit Architektur und Planung als Bezugspunkte politischer und sozialer Fragestellungen waren, so fragwürdig erschienen sie jetzt, da sie als bürgerliche und reformistische Tätigkeitsfelder erkannt waren. Entscheidender war, beispielsweise durch die Gründung von Betriebsräten den politischen Kampf am Arbeitsplatz aufzunehmen. Die „Fachgruppe der Angestellten in Architektur- und Ingenieurbüros in der IG Bau Steine Erden“ berichtete über praktische Beispiele dazu.58
VII. Ende der Proletarisierung
Heft 27 gab Ende 1975 mit Julius Posener und Heinrich Klotz erstmals zwei prominenten Architekturhistorikern Raum, über Architektur zu schreiben und dabei Abbildungen einzusetzen. Das Editorial war mit der nur rhetorisch gemeinten Frage „Tendenzwende?“ überschrieben. Zu diesem Zeitpunkt hatte sich in Gegenreaktion auf die bisherige Vorherrschaft der Berliner:innen eine von Aachen und Stuttgart gestellte Mehrheit in der Redaktion gebildet, die die Heftproduktion in der Hand hielt. Sie sah die Notwendigkeit einer Revision des Konzepts von ARCH+ und begründete dies mit „neueren politischen Entwicklungen, die Journalisten ‚Tendenzwende‘ genannt haben“59. Dieses Schlagwort bezeichnete damals eine Phase der politischen Neubestimmung nach dem Optimismus der 1960er Jahre. Steckengebliebene Reformen, enttäuschte politische Erwartungen, die globale Wirtschaftskrise und zunehmende internationale Spannungen sowie die Einsicht in die Begrenztheit menschlicher und natürlicher Ressourcen führte zu einer damals von Erhard Eppler im positiven Sinne als „wertkonservativ“ bezeichneten Politik der Behutsamkeit, wie sie später die Partei der Grünen repräsentieren sollte. Es entstand eine produktive politische Unschärfe, bei der links nicht mehr automatisch Technologie, Fortschritt und Wissenschaftlichkeit meinte.
ARCH+ sei eine „Zeitschrift von linken Intellektuellen für linke Intellektuelle“, solle aber zu einem „Trägerorgan“ für den politischen Architektur- und Planungsdiskurs werden. Die Befürworter der „Tendenzwende“ wollten eine Zeitschrift für all jene machen, die sich kritisch mit der Produktion gebauter Umwelt befassen. Überrascht stellten sie fest, dass über den Frankfurter Häuserkampf oder die Hamburger Siedlung Steilshoop in ihrer Zeitschrift bisher nicht berichtet worden war. Die bisher in ARCH+ teilweise vertretene Kritik an Bürgerinitiativen als ohnmächtige Staatsbürgerinitiativen übersah in ihren Augen „das soziale Moment und damit die spezifische politische Identität“ dieser neuen politischen Gruppen. Auch ignoriere die gewerkschaftsorientierte klassisch-marxistische Haltung – zugunsten des vermeintlichen Hauptwiderspruchs zwischen Arbeit und Kapital und dem auf dieser Basis anzustrebenden Klassenkampf – die aktuellen politischen Bewegungen und Initiativen und brandmarke jeden Aktionismus basisdemokratischer Bewegungen pauschal als reformistisch oder wirkungslos.60
Die Verfasser:innen der „Tendenzwende“ plädierten für eine breitere Meinungsvielfalt, die praktischer Politik den Vorrang gegenüber der „Reflexion über das, was jetzt ansteht“ gab. Die neue ARCH+ wollte die aufkommenden städtischen sozialen Bewegungen dokumentieren. Dazu sollten beispielsweise Basisinitiativen, Studierndengruppen und Ringdiskussionen vorgestellt, Arbeitshilfen wie Bibliografien und eine Anzeigenrubrik publiziert werden, und tatsächlich: „mehr Bilder, Plane, Graphiken und Karikaturen“. Hier deutete sich ein auch kulturell gewandeltes Selbstverständnis als undogmatische Linke mit einer der Alternativszene zuzurechnenden Haltung an. Die Idee mit den Kleinanzeigen erinnert an den Whole Earth Catalog, Diskussionen signalisierten Offenheit sowie Szenebezug und handgezeichnete Karikaturen vermittelten eine geerdete Unangepasstheit, mehr Bilder vielleicht Sinnlichkeit.
Auf dem Cover des darauffolgenden Heftes befand sich wie angedroht erstmals ein Bild: ein von dem Künstler Dieter Masuhr handschriftlich überzeichnetes Foto eines Wohnwagens. Damit war die Kräfteverteilung der beiden Gruppierungen eigentlich schon klar. Der ebenfalls neu eingeführte Themenschwerpunkt lautete fast provozierend „Trivialarchitektur“. ARCH+ hatte jetzt ein hochgestelltes „+“ und hieß im Untertitel „Zeitschrift für Architekten, Stadtplaner, Sozialarbeiter und kommunalpolitische Gruppen“. Die Zeitschrift thematisierte so die Vielgestaltigkeit der Leserschaft und verzichtete auf jede inhaltliche oder politische Einschränkung. Die ARCH+ hatte damit ihre neue Richtung als kritische Fachzeitschrift gefunden. Es erschienen Themenhefte zu Stadterneuerung, Aneignung, Wohnumfeldverbesserung, Verkehrsberuhigung und Genossenschaften. Symbolkräftige Cover in Regenbogenfarben, träumerische Collagen, Tuschekarikaturen oder Fantasy-Malereien kündeten Beitrage zu Selbstbau, Ökologie, regionalem Bauen, Feminismus, Bürgerbeteiligung und zu Lehmbau an.
Jesko Fezer ist Professor für Experimentelles Design an der HFBK Hamburg. 2022 erschien seine Dissertation Umstrittene Methoden. Architekturdiskurse der Verwissenschaftlichung, Politisierung und Partizipation im Umfeld des Design Methods Movement der 1960er Jahre.
1
Der Sozialistische Deutsche Studentenbund (SDS) – gegründet 1946, aufgelöst 1970 – war ein politischer Studierendenenverband und spielte eine bedeutende Rolle in der Studierendenbewegung der 1960er Jahre.
2
Die „Austrittserklärung der Redaktionsmitglieder Klaus Brake, Helga Fassbinder und Renate Petzinger aus der Redaktion“ erschien als Sonderdruck nach der Ausgabe ARCH+ 33/1977 (Bd. 9), hier S. 3.
3
„Austrittserklärung“, a. a. O., S. 9f.
4
Brief der „vorläufigen Redaktion“ bestehend aus Bäte, Dietze, Hezel, Koblin, Lammert, Minke, Neusel an die Abteilung für Architektur der damaligen Technischen Hochschule Stuttgart vom 2. Dezember 1966, „Betreff: Zeitschrift“. Quelle: Archiv ARCH+.
5
Brief von Peter Dietze an die ARCH+-Redaktion vom 6. Mai 2007.
6
ARCH+ 6/1969 (Bd. 2), S. 51.
7
Ebd., S. 62.
8
Ebd., S. 69.
9
ARCH+ 7/1969 (Bd. 2), S. 2.
10
Die Proteste der Architekt:innen- und Studierendenschaft gegen die in Stuttgart beschlossene Landespolitik wurde auch an der Architekturfakultät in Stuttgart registriert. Vgl. „Arch+ Informationen“- Flugblätter, Ausgabe 2, 15.11.1967.
11
ARCH+ 1/1968 (Bd. 1), S. 1.
12
Vgl. die Druckfassung Jürgen Joedicke: „Zur Formalisierung des Planungsprozesses“, in: Institut für Grundlagen der Modernen Architektur (Hg.): Bewertungsprobleme in der Bauplanung (=Arbeitsberichte zur Planungsmethodik 1). Stuttgart: Karl Krämer, 1969, S. 23.
13
Zum Verhältnis von Rittel und Joedicke sowie zur Planungstheorie an der Universität Stuttgart vgl. auch den Beitrag „Zwischen Ulm und Rittel – Jürgen Joedicke und die Stuttgarter Planungstheorie“ von Wolf Reuter auf dieser Website.
14
Helmut Böttiger (Hg.): Der VfB grüßt den tapferen Vietcong: Stuttgart in den 60er Jahren. Die Serie aus der Stuttgarter Zeitung. Stuttgart: Flugasche-Verlag, 1989, S. 43.
15
Vgl. Ulf Meyer: „30 Jahre – und kein bisschen weise?“, in: ARCH+ 139–140/1998 (Bd. 31), S. 148
16
Böttiger 1989 a. a. O., S. 43.
17
Siegfried Maser: „Systemtheorie. Über die Darstellung wissenschaftlicher Erkenntnis“, in: ARCH+ 2/1968 (Bd. 1), S. 21–26.
18
Max Bense: „Urbanismus und Semiotik“, in: ARCH+ 3/1968 (Bd. 1), S. 23–25.
19
ARCH+ 6/1969 (Bd. 2), S. 67f.
20
ARCH+ 7/1969 (Bd. 2), S. 65f.
21
ARCH+ 8/1969 (Bd. 2), S. 57f.
22
Vgl. ARCH+ 2/1968 (Bd. 1).
23
Vgl. Gert Kähler: „Kurze Aufforderung“, in: o. A.: Für Ulrich Conrads von Freunden. Braunschweig: Vieweg, 1988, S. 92.
24
Vgl. Jasper Cepl: Oswald Mathias Ungers. Eine Intellektuelle Biographie. Köln: Walther König, 2007, S. 228.
25
Vgl. Jesko Fezer, Martin Schmitz (Hg.): Lucius Burckhardt. Wer plant die Planung?. Berlin: Schmitz, 2004, S. 192.
26
Jörn Janssen: „Verhältnisse zwischen Theorie und Praxis in der Bauplanung“, in: ARCH+ 3/1968 (Bd. 1), S. 57-62.
27
Vgl. Konrad Stahl: „Studium an der University of California“, in: ARCH+ 7/1969 (Bd. 2), S. 69.
28
Vgl. Paul Davidoff: „Advocacy and Pluralism in Planning”, in: Journal of the American Institute of Planners 4/1965 (Bd. 31), S. 331–338.
29
Vgl. ARCH+ 8/1969 (Bd. 2), S. 29ff.
30
Stephan Brandt: „Zur Demokratisierung des Planungsprozesses“, in: ARCH+ 9/1970 (Bd. 3), S. 22.
31
Ebd, S. 23.
32
Horst Rittel: „Zukunftsorientierte Raumordnung“, in: ARCH+ 10/1970 (Bd. 3), S. 70.
33
Ebd, S. 71.
34
Hans Jürgen Krahl: „Thesen zum allgemeinen Verhältnis von wissenschaftlicher Intelligenz und proletarischem Klassenbewusstsein“, in: ARCH+ 10/1970 (Bd. 3), S. 55.
35
Arbeitsgruppe Sanierung Schönebergs: „Sanierung Schöneberg“, in: ARCH+ 10/1970 (Bd. 3), S. 31.
36
ARCH+ 11/1970 (Bd. 2), S. 1.
37
ARCH+ 13–14/1971 (Bd. 4): Die geforderte Praxisnähe wurde tatsächlich eingelöst, etwa durch den Abdruck einer „Pilot-Study zur Wohnraumversorgung ausländischer Arbeitnehmer in Baden-Württemberg“, einem Beitrag „Zur Frage der gewerkschaftlichen Vertretung der Interessen von lohnabhängigen Architekten und von Architekturstudenten“, einem Text über den „gewerkschaftlichen Kampf der Studenten“ sowie einer recht praktischen „Anleitung zur Wahl eines Betriebsrates in Architekturbüros“.
38
ARCH+ 15/1972 (Bd. 5), S. 2.
39
Vgl. Helga Fassbinder: „Gegen-Planung“, in: Bauwelt 48/1983 (Bd. 74), S. 1947.
40
Helga Fassbinder im Telefoninterview mit dem Autor, 8. Februar 2008. Aus selbigem Gespräch stammt auch die Überschrift dieses Abschnitts.
41
Ihre Strategie würde eher für gehobene Mittelschichten taugen, „die Ausbeutung nicht unmittelbar erfährt“, wie im Frankfurter Westend, wo die Bürgerinitiativgruppe ihr „Vertrauensverhältnis zur Stadt in Gefahr“ sah. Im Arbeiterbezirk Kreuzberg existierte das gar nicht. Vgl. Büro für Stadtsanierung und soziale Arbeit Kreuzberg (Hg.): Sanierung für wen? Gegen Sozialstaatsopportunismus und Konzernplanung. West-Berlin: Agitdruck, 1970, S. 342.
42
Ebd.
43
„Refo“ steht für Reform und meint eine pragmatisch-undogmatische Linke, die von der extremen Linken als revisionistisch gebrandmarkt wurde.
44
„Städtebau 1908/1968/2008. Impulse aus der TU (TH) Berlin“, Schinkelzentrum, TU Berlin, 7. Februar 2008.
45
Vgl. StadtBauwelt 20/1968 (Bd. 5), S. 1499–1504.
46
Helmut Krauch, Werner Kunz, Horst Rittel (Hg.): Forschungsplanung. Eine Studie über Ziele und Strukturen amerikanischer Forschungsinstitute. München, Wien: Oldenbourg, 1966.
47
Jürgen Habermas: „Verwissenschaftlichte Politik in demokratischer Gesellschaft“, in: Krauch, Kunz, Rittel 1966 a. a. O., S. 130–144.
48
Vgl. Diplomanden Kollektiv ALDI (Dötze, Heggi, Isolde, Norbert, Uwe) (Hg.): Zum Beispiel Architekturfakultät Berlin. 11 Jahre danach. Berlin: TU Fachbereich für Bauplanung und Baufertigung, 1977, S. 65.
49
Kritische Universität, Freie Studienorganisation der Studenten in Hoch- und Fachschulen von Westberlin (Hg.): Programm und Verzeichnis der Studienveranstaltung im WS 1967/68. Berlin: o. A., 1967, S. 44 ff. (http://www.infopartisan.net/archive/1967/266750.html; zuletzt abgerufen am 2. Juni 2025).
50
Vgl. ebd.
51
Vgl. ALDI 1977 a. a. O., S. 56.
52
Vgl. ebd., S. 69.
53
Vgl. ebd., S. 85.
54
Später stießen noch Werner Durth (Darmstadt), Adalbert Evers (Aachen), Renate Petzinger (Berlin), Hinrich Stoffl (Wien) und Günther Uhlig (Aachen) dazu.
55
Vgl. Meyer 1998 a. a. O., S. 149.
56
ARCH+ 20/1973 (Bd. 6), S. 4.
57
Vgl. ARCH+ 22/1974 (Bd. 7), S. 1.
58
Vgl. Fachgruppe der Angestellten in Architektur- und Ingenieurbüros in der IG Bau Steine Erden: „Konflikt um die Betriebsratsbildung in einem Berliner Büro“, in: ARCH+ 22/1974 (Bd. 7), S. 20.
59
ARCH+ 27/1975 (Bd. 8), S. 1.
60
Ebd., S. 1–10.