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Analyse

Aus der Vergangenheit jene Elemente herausschälen, die zum Ausgangspunkt der Zukunft werden. Von der Erfindung der Modernen Bewegung zu neuen Architektur-Erzählungen

VITTORIO MAGNAGO LAMPUGNANI

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Abstract

Verweise

Index

I. Zur Geschichte der Geschichte der Modernen Bewegung

II. Vom geschichtlichen Manifest zur manifestartigen Geschichte

III. Autobiographischer Einschub: Ein schüchterner Ausbruchsversuch und ein Rückzug

IV. Der Historiker als empathischer Sherlock Holmes und die Notwendigkeit der Erzählung

V. Fakten und Erfindungen

VI. Für eine innovative Architekturgeschichtsschreibung am konkreten Objekt

Vittorio Magnago Lampugnani zeichnet in seinem Aufsatz nach, wie klassische Veröffentlichungen zur modernen Architektur – von Adolf Behnes Der moderne Zweckbau (1926) bis Jürgen Joedickes Geschichte der modernen Architektur (1958) – einen Mythos konstruieren. Er wirbt stattdessen für eine "innovative Architekturgeschichtsschreibung am konkreten Objekt".

Dieser Text basiert auf einem Vortrag bei der Konferenz IGmAde: 50+ Jahre Architektur, Theorie und Poiesis an der Universität Stuttgart, November 2018. Er erschien zum ersten Mal auf dieser Website im Juni 2025 als Teil der Veröffentlichung Joedicke100 – Jürgen Joedicke und das IGmA (II): 1978–1993.

Titelbild:
Vittorio Magnago Lampugnani: Architektur und Städtebau des 20. Jahrhunderts (1980), Cover.


Redaktion:
Leo Herrmann, Sandra Oehy

© IGmA/BBSR

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Thema:

Joedicke100 – Jürgen Joedicke und das IGmA (II): 1978–1993

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Aus der Vergangenheit jene Elemente herausschälen, die zum Ausgangspunkt der Zukunft werden. Von der Erfindung der Modernen Bewegung zu neuen Architektur-Erzählungen

Vittorio Magnago Lampugnani

Die „Moderne Bewegung“ in der Architektur verdankt Ausmaß, Hartnäckigkeit und Dauer ihres Erfolgs weitgehend ihrer Geschichtsschreibung. Diese zeichnet sich durch drei eigentümliche Hauptmerkmale aus. Erstens: Nahezu alle Historiker der Modernen Bewegung betrieben keine Geschichtswissenschaft im strengen Sinn, sondern waren Masse befangen – und zwar als Befürworter und Mitstreiter. Zweitens: Nahezu alle verstanden ihre Arbeit in erster Linie als Unterstützung, wenn nicht gar als Kampf für die Avantgarde und opferten diesem zentralen militanten Anspruch nicht nur das Bemühen um Objektivität, sondern auch sämtliche umfassenden, pluralistischen Informationen über die Ereignisse der architektonischen Kultur ihrer Zeit. Drittens: Nahezu alle verwendeten für ihre parteiliche Argumentation immer wiederkehrende Topoi, die durch ihre Wiederholung zu festen Mythen kristallisierten.1


I. Zur Geschichte der Geschichte der Modernen Bewegung

Adolf Behne: Der moderne Zweckbau, oder: eine glücklose Analyse der Avantgarde

Abb. 1


Die früheste dieser historisch aufgebauten Tendenzschriften ist Der moderne Zweckbau von Adolf Behne.2 Das Buch wurde 1923 fertiggeschrieben, fand jedoch zunächst keinen Verlag. Als es drei Jahre später endlich gedruckt vorlag, erfuhr es spärliche Beachtung: Der Bildteil war mit dem des ersten Bauhausbuches, Gropius‘ furoremachender Internationalen Architektur von 1925, nahezu identisch und den Text las offensichtlich kaum jemand.

Das lag gewiss nicht am Text selbst. Behnes Arbeit ist eine ebenso luzide wie unbestechliche Analyse der Anfänge der Modernen Bewegung, deren Werke in der Spannung zwischen Werkzeug und Spielzeug, zwischen Relativum und Absolutum gedeutet werden; das architektonische Untersuchungsmaterial beschränkt sich auf die moderne Avantgarde, weist aber kaum größere Lücken auf. Ohne den Anspruch einer historischen Abhandlung zu erheben, führt Behne bereits historiographische Topoi ein, welche die folgenden Geschichtsschreibung übernehmen und ausbauen wird: das akademische „falsche“ 19. Jahrhundert als Hintergrund für die Erneuerung; die Trennung von „Formbau“ und „Zweckbau“; der Jugendstil als „Vorbereitungsstil“; die Opposition durch namhafte „Führer“ (es sind Hendrik Petrus Berlage in den Niederlanden, Alfred Messel in Deutschland und Otto Wagner in Österreich, aber auch Louis Henry Sullivan in den Vereinigten Staaten von Amerika) und schließlich die triumphale internationale Bewegung der „Funktionalisten“ und der „Rationalisten“. Letztere wird mit offenkundiger Zuneigung, aber keineswegs unkritisch betrachtet.


Gustav Adolf Platz: Die Baukunst der neuesten Zeit, oder: eine Erzählstruktur wird eingeführt

Abb. 2


Das verlegerische Glück, das Behnes Arbeit versagt blieb, wurde dem Buch zuteil, das mit einem ähnlichen Thema unmittelbar auf Der moderne Zweckbau folgte: 1927 erschien im renommierten Berliner Propyläen Verlag Die Baukunst der neuesten Zeit von Gustaf Adolf Platz,3 seit 1913 Stadtbaudirektor von Mannheim. Es ist bezeichnend, dass die erste aufgeklärte Geschichte der neueren Architektur im gleichen Jahr veröffentlicht wird, in dem die Stuttgarter Weißenhofsiedlung, das erste gebaute Manifest der internationalen Modernen Bewegung, einem erstaunten Publikum ihre Pforten öffnete. Allerdings hinderte die unverhohlen bekundete Sympathie für das „neue bauen“ Platz nicht daran, ein vergleichsweise objektives, entschieden pluralistisches und innerhalb der selbstgesteckten Grenzen weitgehend komplettes Panorama der architektonischen Kultur seiner Zeit zu zeichnen. Platz‘ Lücken haben kaum ideologische Gründe: Er kennt sich offensichtlich fast nur in Deutschland und Österreich aus, und beschränkt sich auch explizit „auf das deutsche Sprachgebiet und die Sphäre seiner unmittelbaren Beziehungen“4.

Innerhalb seines umfangreichen Materials führt Platz eine Erzählstruktur ein, die auf Behnes Vorarbeit aufbaut, dessen Topoi weiterentwickelt und sich in der Historiographie der Moderne Bewegung fest etablieren wird. Ausgangspunkt des Epos des „neuen bauens“ ist die große Architektur der Vergangenheit, die dieses Attribut allerdings nur bis um 1800 (genauer: bis 1830) trägt. Danach kommt das dunkle Kapitel der Stilmaskerade des 19. Jahrhunderts, hinter der sich das erschreckende Elend der armen Leute und die verabscheuungswürdige Spekulation der reichen Grundstücksbesitzer verbirgt: „[…] [D]ie Architektur aller Stile hat das lasterhafte Antlitz unserer neuen Städte gebildet. Ihre Hässlichkeit war nichts anderes als der Ausdruck der verderbten Gesinnung ihrer Erbauer, denen Ausbeutung einziges Gesetz, Genuss einziges Ziel war.“5 Den ersten Ausweg aus der „Schlammflut“6 architektonischer Lügen weisen die Ingenieurbauten: Von „der Tragik der Übergangszeit fast ganz verschont“ meistern sie die „Aufgaben der Gegenwart“ durch „wissenschaftliche Rechnung und sparsamste Formgebung“7 und versagen sich mithin dem eklektizistisch-dekorativen Formenkarneval. Es folgen dann auch in der Architektur vorwärtsgewandte Ansätze, etwa die Arts-and-Crafts-Bewegung, der Jugendstil und der deutsche Reformismus des „Heimatschutzes“; sie sind zwar noch nicht das Neue, bereiten ihm aber mit Hilfe von „Vorkämpfern“8 den Boden. Schließlich wird diesem Neuen durch einzelne herausragende „Führer“9, die ihre „Mission“ mit „Meisterschaft“ vollbringen10, eine definitive Form verliehen und zum endgültigen Durchbruch verholfen. Diese „wahrhaft schöpferischen Menschen“, diese „radikal eingestellten Persönlichkeiten“, diese „Pioniere“11, interpretieren den Zeitgeist in korrekter und kreativer Weise, schaffen einen neuen Stil und erreichen damit auch die Wiederherstellung des Bezugs zur großen historischen Architektur.

So eng die abstrakte Erzählstruktur erscheint, so weit ist ihre konkrete Anwendung in Platz‘ „Geschichtlichem Überblick seit 1895“. Das Spektrum der „Künstler“, die „Neues in der Baukunst“ versuchen12, reicht von Hendrik Petrus Berlage über Henry van de Velde und Peter Behrens bis zu Heinrich Tessenow; und die „Reinigung der Gesinnung“13 nach dem Ersten Weltkrieg führt von den utopischen Visionen des architektonischen Expressionismus zu den sachlichen Realisationen des „neuen bauens“. Was solcherlei Erscheinungen verbindet: „Es wachsen die neuen Formen unserer Zeit, es wächst Haus und Kleid der neuen Menschheit aus chaotischer Gärung in einem Bildungsprozess, […] dessen Niederschlag der neue Stil sein wird.“14


Walter Curt Behrendt: Der Sieg des neuen Baustils, oder: eine militante Kampfschrift

Abb. 3


Parallel zu Die Baukunst der neuesten Zeit erschienen zwei Bücher, deren militante Haltung die Ausgewogenheit von Platz im Kontrast deutlich hervortreten lässt. Walter Curt Behrendt, Berliner Architekt, Ministerialrat, Verfasser einer fundamentalen Monographie über Alfred Messel und scheidender Schriftleiter der Zeitschrift Die Form, veröffentlichte 1927 Der Sieg des neuen Baustils und stellte den Durchbruch der Moderne Bewegung als (positives) Ergebnis einer Auseinandersetzung von Guten (den Modernisten) und Bösen (den Traditionalisten) dar.15 Ein rascher (und selektiver) Lauf durch die Architekturgeschichte des 20. Jahrhunderts veranschaulicht nicht ohne Pathos „das Ringen um den neuen Stil“16 und bereitet das Fazit vor: „nicht einzelne Talente und Persönlichkeiten entscheiden diesen Kampf. Es ist der Zeitgeist, der sich hier die Form erzwingt.“17 Auf dem von Werner Graeff gestalteten Umschlag wehen siegreich internationale Fahnen vor den modernen Häusern der nagelneuen Stuttgarter Weißenhofsiedlung.


Sigfried Giedion: Bauen in Frankreich, oder: Geschichtsschreibung im Dienst der Avantgarde

Abb. 4


Ein Jahr später publizierte Sigfried Giedion, Schweizer Kunsthistoriker und Literat, Bauen in Frankreich. Eisen, Eisenbeton,18 ein von Laszlo Mohóly-Nagy graphisch gestaltetes livre à thèse über die Beziehung von Industrialisierung und Architektur. Der Einfluss dieser Arbeit war, vornehmlich in Fachkreisen, enorm. Platz etwa gibt dies in der zweiten, stark überarbeiteten Auflage seines Werks (1930) explizit zu: Tatsächlich reicht der Einfluss bis zur Übernahme argumentativer Figuren wie jener der angeblich parallelen Gründung der École des Beaux Arts und der École polytechnique, ein Kunstgriff, das dazu diente, die Theorie der Dichotomie zwischen der (schlechten) Architektur und dem (guten) Ingenieurwesen im 19. Jahrhundert historisch zu erhärten.19

Bauen in Frankreich ist eine originale geschichtliche Untersuchung (die sich übrigens keineswegs auf Frankreich beschränkt, wie der Titel suggeriert) und eine temperamentvolle Kampfschrift zugleich. Das Buch schildert in drei Kapiteln die historischen Veränderungen im 19. Jahrhundert und ihre Folgen für das 20. Jahrhundert („Einleitung“), die geschichtliche Entwicklung der Eisenkonstruktion („Eisen“) sowie die der Stahlbetonkonstruktion („Eisenbeton“). Dabei nimmt es vieles vorweg, was Giedion später ausführlicher entwickeln sollte: das (Selbst-)Verständnis des Historikers, der „in der Zeit“ steht, „nicht über ihr“,20 die Vermischung von Programm und Geschichtsschreibung sowie die „Historiographie durch Ausschließung“. Letztere wird auch theoretisch legitimiert. Denn nach Giedion kommt dem Historiker die Aufgabe zu, „aus dem ungeheuren Komplex einer vergangenen Zeit jene Elemente herauszuschälen, die zum Ausgangspunkt der Zukunft werden.“21 Diese Überzeugung sollte 13 Jahre später in seinem architekturhistorischen Hauptwerk folgenreiche Blüten treiben.


Henry-Russell Hitchcock: Modern Architecture, oder: die Gegenwart als Endpunkt der geschichtlichen Dialektik

Abb. 5


1929, zwei Jahre nach Erscheinen der ersten Auflage (und Fassung) des Textes von Platz und ein Jahr nach Giedions Streitschrift, veröffentlichte der gerade sechsundzwanzigjährige amerikanische Historiker Henry-Russell Hitchcock Modern Architecture. Romanticism and Reintegration.22 Die Grundzüge seiner historischen Argumentationsstruktur hatte er ein Jahr zuvor in einem Aufsatz vorweggenommen, der in zwei Teilen unter den vielsagenden Überschriften „The Traditionalists and the New Tradition“ und „The New Pioneers“ in der Fachzeitschrift Architectural Record abgedruckt worden war.23 In seinem Buch entwickelte er das Erzählmotiv weiter und gelangte zu einem Plot, der jenem, den Platz angewendet hatte, bemerkenswert ähnlich ist: Bedeutende Architektur der Vergangenheit (bis 1750) als Hintergrund des Geschehens; Beeinflussung der Baukunst durch die Prinzipien der Romantik, was zersetzende Momente in die Architektur einführt und sich gegen Ende des 19. Jahrhunderts zur Krise der „dunklen Nacht des grassierenden Eklektizismus des Geschmacks“ steigert („The Age of Romanticism“);24 erste Anzeichen einer neuen, noch zögernden Zusammenfügung in den verschiedenen Reformbewegungen um die Jahrhundertwende („The New Tradition“); definitive, triumphale Reintegration der Baukunst (daher der Untertitel des Werks) in der Arbeit der großen Meister der Modernen Bewegung („The New Pionieers“), die erneut eine unteilbare Einheit und dabei auch gleich einen neuen Stil schaffen.

Nach Hitchcock soll „historische Kritik […] in der Lage sein zu zeigen, dass, bezogen auf die Architektur, die Gegenwart der letzte verwirklichte Punkt der Dialektik der Geschichte ist.“25 Diesen Satz hätten vermutlich Platz und Giedion auch unterschrieben. Anders als seine Vorgänger macht sich Hitchcock allerdings daran, den Nachweis des Satzes in einer sowohl zeitlich als auch geographisch außerordentlich breit ausgelegten Übersicht zu erbringen. Am liebsten würde er mit der Hochgotik des 13. Jahrhunderts beginnen, weil mit ihr seiner Auffassung nach der modern style anbricht,26 aus Gründen der Praktikabilität fasst er jedoch die Zeit zwischen 1250 und 1750 in einem Appendix zusammen. Immerhin ist etwa ein Drittel des Buches der „dunklen“ Epoche zwischen 1750 und 1895 gewidmet, sodass das Epos der Moderne durch „neue“ Protagonisten wie John Soane, Charles Bulfinch, Benjamin Henry Latrobe, Charles Percier, Pierre-François-Leonard Fontaine, Friedrich Gilly, Karl Friedrich Schinkel, Henri Labrouste, Jakob Ignaz Hittorf, Charles Barry, Edwin Lutyens, Richard Morris Hunt und Eugène-Emmanuel Viollet-le-Duc bereichert wird.

Innerhalb der Erzählstruktur des Epos, das er knapp und zuweilen anmaßend vorträgt, kristallisiert Hitchcock eine Reihe von (teilweise bereits von Platz vorgeschlagenen) genealogischen Beziehungen heraus, die kanonisch werden sollten: Henry Hobson Richardson, Louis Henry Sullivan (mit unbegründeter Herablassung behandelt) und Frank Lloyd Wright; Auguste Perret und Le Corbusier; Peter Behrens und Walter Gropius; Petrus Josephus Hubertus Cuypers und Jacobus Johannes Pieter Oud. Freilich fordert diese eingängige historische Sicht ihre Opfer, und wer (oder was) nicht in das simple evolutionäre System passt, wird kurzerhand als „Abweichung“ abgelehnt und unterschlagen; so Antoni Gaudí und der gesamte deutsche architektonische Expressionismus.27 Die Entwicklung eines neuen Stils, einer neuen Ästhetik,28 hat offensichtlich ihren Preis. 1932 konsolidierte Hitchcock, „vierhändig“ mit Philip Johnson, die Ergebnisse seiner historischen Analyse in der einflussreichen kritischen Bilanz The International Style. Architecture since 1922,29 die er anlässlich der Ausstellung Modern Architecture im New Yorker Museum of Modern Art zog.


Nikolaus Pevsner: Pioneers of the Modern Movement, oder: die Kodifizierung des Mythos der Pioniere

Abb. 6


Die Vorstellung der Modernen Bewegung als „wahrer Geist der neuen Zeit“,30 bereits in Die Baukunst der neuesten Zeit artikuliert, sollte in Pioneers of the Modern Movement. From William Morris to Walter Gropius31 einen Höhepunkt feiern. Die offensichtlichen Anleihen, die Pevsners Arbeit aus vorausgehenden Werken bezieht, werden sorgfältig verschwiegen: Platz ist nicht erwähnt, Hitchcock nur im Zusammenhang mit der Ausstellung im Museum of Modern Art (und in einer Fußnote), von Behrendt wird allein die Monographie über Alfred Messel zitiert, Giedion taucht zwar dreimal, aber bloß in den Anmerkungen auf. Eine allgemeine Bibliographie gibt es nicht. In seinem Vorwort beansprucht Pevsner, dieses sei (immerhin: wenn er nicht irre) das erste Buch über das Sujet, eine ganz und gar unhaltbare Aussage.32 Die schaffenden Pioniere sollen von ihresgleichen, von reflektierenden Pionieren historisiert werden. Architekten und Historiker sind gleichermaßen schöpferische Protagonisten an der Front der neuen Bewegung.

Deren geschichtliche Ableitung wird nach bewährtem Muster konstruiert, indem das Hegel‘sche deduktive Modell auf die Baugeschichte übertragen und die Architektur, zum Sediment und zur Darstellung von Gesellschaft erklärt, in eine von der sozialen Entwicklung gänzlich abhängige Rolle verwiesen wird. Ausgangspunkt ist erneut das dunkle, unmoralische, böse 19. Jahrhundert. Gegen dessen Unehrlichkeit erhebt sich die Arts-and-Crafts-Bewegung von William Morris. Die Stilmaskerade wird durch die imposanten, kühlen, klar gezeichneten Ingenieurbauten Lügen gestraft. Der muffige viktorianische Geschmack wir durch die ästhetischen Experimente des Jugendstils (einer Art Übergangsstil) revolutioniert. Und zu guter Letzt entspringt diesen Quellen, die sie alle verarbeitet und überwindet,33 die Moderne Bewegung als „echter und legitimer Stil unseres Jahrhunderts.“34 Ihre Werke sind jener der großen Architektur der Gotik oder der Renaissance vergleichbar, an die sie – zumindest ideell – anknüpfen.

Innerhalb dieses elementaren Musters, das wie ein Märchen aufgebaut ist und sogar ein Happy Ending aufweist, agieren die heroisch isolierten Pioniere als begnadete Interpreten des Zeitgeists; um sie herum scharen sich, von den wahren Meistern deutlich abgegrenzt, verschiedene Nebenfiguren. All das, was die impliziten Thesen der Homogenität der analysierten Periode, der Linearität der ablaufenden Prozesse sowie der Einzigartigkeit der Leistungen der Pioniere abschwächen oder gar in Frage stellen könnte, wird verschwiegen oder bagatellisiert. So fällt kein Wort über die Vielfalt der architektonischen Strömungen des späten 19. und frühen 20. Jahrhunderts, über ihre Parallelitäten, Beziehungen und Gegenläufigkeiten; von Antoni Gaudí, der nur in Fußnoten erwähnt wird, heißt es mit entwaffnender Ehrlichkeit, er sei so sehr ein Außenseiter, dass es schwierig falle, ihm überhaupt einen historischen Platz zuzuweisen;35 Le Corbusier wird, um Gropius‘ Licht nicht zu verschatten, innerhalb eines kurzen Absatzes als marginale Erscheinung abgehandelt, als Spätankömmling, dessen Verdienst mehr im „showmanship“ liege als in der Substanz des Œuvres.36 Am deutlichsten offenbart jedoch Pevsner seine Parteilichkeit bei der enthusiastischen Exegese der Bauten von Walter Gropius.

Das Erzählmuster fand zwar nicht bloß Zustimmung, aber weite Verbreitung. Es wurde in weiten Teilen von Walter Curt Behrendt übernommen, der 1937 in seinem komplexer aufgebauten Modern Building. Its Nature, Problems, and Forms37 darüber hinaus die zwei Pole der rationalen und der organischen Architektur (man könnte auch sagen: der Abstraktion und der Einfühlung) innerhalb der Modernen Bewegung erstmalig scharf voneinander abgrenzte. Es wurde von James Maude Richards in An Introduction to Modern Architecture (1940) einem breiten Laienpublikum zugänglich gemacht.38 Und es wurde, ein Jahr nach dem Erscheinen von Richards‘ Buch, in der Arbeit übernommen, die neben denjenigen von Platz und Pevsner zum Meilenstein der Geschichte der Geschichte der Modernen Bewegung werden sollte: Sigfried Giedions Space, Time and Architecture. The Growth of a New Tradition.39


Sigfried Giedion: Space, Time and Architecture, oder: der Historiker als Anwalt des Zeitgeistes

Abb. 7


In Giedions grandioser, reicher und fraglos innovativer Arbeit (übrigens: wieder ein Buch ohne Bibliographie, in dem etwa Platz mit keinem einzigen Wort erwähnt wird) setzt sich der Prozess der Hervorbringung von Texten durch Texte fort. Einmal mehr taucht, bereits im Inhaltsverzeichnis ablesbar, die mittlerweile wohlbekannte Erzählstruktur auf: große Architektur der Vergangenheit („Das architektonische Erbe“), das düstere und verwerfliche 19. Jahrhundert, in dem allein die Ingenieure mit ihren Konstruktionen einen Lichtblick bieten („Die Entfaltung neuer Möglichkeiten“), erste Anzeichen einer Erneuerung im Oeuvre von Henry van de Velde, Victor Horta, Hendrik Petrus Berlage, Otto Wagner, Auguste Perret und Tony Garnier („Die Forderung nach Moral in der Architektur“) und zu guter Letzt die triumphale Blüte der Modernen Bewegung mit ihrem Meister-Triumvirat Frank Lloyd Wright, Walter Gropius und Le Corbusier („Raum-Zeit-Konzept in Kunst, Konstruktion und Architektur“). Dem ist ein methodischer Teil vorangestellt („Geschichte als Teil des Lebens“) und (verständlicherweise) ein Kapitel über die Vereinigten Staaten von Amerika dazwischengeschaltet („Die amerikanische Entwicklung“); am Schluss folgt noch ein dreiteiliger Anhang über Städtebau („Der Städtebau im neunzehnten Jahrhundert“), „Stadtplanung als menschliches Problem“ und „Raum-Zeit in der Stadtplanung“). Der bewährte Plot wird nach ebenfalls bewährten Leitmotiven entwickelt: Die Moderne Bewegung als Inkarnation des Zeitgeists (was angesichts des Wölfflin’schen Einflusses, den Giedion übrigens mit Pevsner gemeinsam hat, kaum wundert), die ominöse architektonische Moral (der Begriff taucht sogar in einer der übergreifenden Kapitelüberschriften auf) sowie die heroischen Führerfiguren, die Zeitgeist und Moral zugleich verkörpern und als kühne, einsame Pioniere dem Neuen den Weg ebnen.

Diesen inzwischen geläufigen historiographischen Thesen gesellen sich zwei neue (genauer: in ihrer Prominenz neue) hinzu: die These der Raum-Zeit und die der konstituierenden und der transitorischen Elemente. Die Anwendung des Raum-Zeit-Begriffs auf die Architektur benutzt Giedion, um – ausgesprochen erfolgreich – durch sein Lieblingsinstrument der Methodengleiche eine enge Beziehung zwischen künstlerischen Avantgarden (vornehmlich Futurismus und Kubismus) und moderner Architektur herzustellen.40 Die Differenzierung zwischen konstituierenden und transitorischen Elemente kommt dem bereits von Platz, Behrendt und Pevsner zum Ausdruck gebrachten Bedürfnis entgegen, zwischen „Mode“ und „Stil“ zu unterscheiden – und natürlich die Moderne Bewegung als Stil oder gar als etwas noch Stabileres und Definitiveres auszuweisen:41

„Konstituierende Elemente und jene Tendenzen, die, wenn sie unterdrückt werden, unvermeidlich wieder auftauchen. Ihre Wiederkehr bringt uns zum Bewusstsein, dass es sich hier um Elemente handelt, die, alle zusammen, eine neue Tradition bilden. [..] Elemente der anderer Art, die ebenso das Produkt der eine Zeit bewegende Kraft sind, haben weder Konstanz, noch sind sie Bestandteile einer neuen Tradition. Beim ersten Erscheinen mögen sie den Eklat und die Brillanz eines Feuerwerks haben, aber sie sind nicht von Dauer. [..] Diese werden wir als transitorische Elemente bezeichnen.“ 42

Aufgabe des Historikers ist nun – es liegt auf der Hand – diese zwei Arten von Elementen auseinanderzuhalten. Es liegt ebenfalls auf der Hand, dass diese „objektive Werte“ voraussetzende Sicht, die der Historiker erkennen kann und muss, um die Spreu vom Weizen zu trennen, für eine Geschichtsbeschreibung, der es um die Festlegung dessen geht, was Weizen ist und was nicht, geradezu prädestiniert ist. Die praktische Anwendung dieses anspruchsvollen theoretischen Ansatzes gerät allerdings überwiegend zu einer Polarisierung persönlicher Vorlieben und persönlicher Abneigungen. 

Die architektonische Kultur des 20. Jahrhunderts war durch einen ausgeprägten Pluralismus gekennzeichnet, zahlreiche unterschiedliche Strömungen bestanden nebeneinander. Giedion wählte aus dem architektonischen Erbe nur das, was ihm lineare Übergänge zur Modernen Bewegung gestattete; er ließ sämtliche traditionalistischen und neoklassizistischen Tendenzen (die immerhin den überwiegenden Teil der damaligen Bauproduktion ausmachten) kurzerhand unerwähnt; und den Expressionismus (mit dem er zumindest literarisch in seiner Jugend verbunden gewesen war) deklarierte er zum „transitorischen Element“ und fertigte ihn mit dem ebenso lapidaren wie unzutreffenden Satz ab, er habe „keinen Einfluß auf die Architektur haben“ können.43


II. Vom geschichtlichen Manifest zur manifestartigen Geschichte

Solcherlei Widersprüche dürfen nicht allzu sehr wundern. Weit davon entfernt, sich selbst als Kompilator von Geschichte zu verstehen, fühlte sich Giedion vielmehr mitverantwortlich für den Entwurf einer Lebensform der Zukunft. Diese Grundhaltung forderte weniger historische Exaktheit als kämpferisches Engagement. Tatsächlich ist Space, Time and Architecture keine Architekturgeschichte, sondern ein geschichtlich aufgebautes Manifest. Die Intention, eine Historie zu zeichnen, taucht demnach konsequenterweise auch nicht im Titel auf – was Giedions Werk mit jenen von Behne, Platz, Behrendt, Hitchcock und Pevsner gemeinsam hat.

Erst in den drei späten Kristallisationen der historiographischen Mythen der Modernen Bewegung, in der Bruno Zevis (1950)44, Jürgen Joedickes (1958)45 und Leonardo Benevolos (1960)46, sollte der Anspruch einer Geschichte aufgestellt und auch in der Überschrift ausgesprochen werden: Alle drei heißen Geschichte der modernen Architektur. Allerdings wird in sämtlichen drei Arbeiten die Grunderzählung der vorausgegangenen historischen Streitschriften beibehalten und lediglich mit zusätzlichen Episoden, Elementen und Aspekten angereichert.

Abb. 8


Abb. 9


Abb. 10



III. Autobiographischer Einschub: Ein schüchterner Ausbruchsversuch und ein Rückzug

Einer der wichtigsten Gründe, die mich bewogen, 1970 für mein Architekturstudium nach Stuttgart zu ziehen, war der Autor der Geschichte der modernen Architektur. Das Buch hatte mich stark beeindruckt, ich wollte seinen Autor kennenlernen. So studierte ich mit großem Gewinn bei Jürgen Joedicke, nahm nach dem Diplom seine Einladung an, in seinem Institut zu arbeiten, und promovierte auch bei ihm.

Daneben begann ich, zunächst in engem Gespräch mit Joedicke, selbst an einer kleinen Architekturgeschichte des 20. Jahrhunderts zu schreiben. Mein Ehrgeiz war, die überkommene Sicht der Entwicklung der modernen Architektur zu überwinden, diese anders und weiter zu definieren und ihre Geschichte neu zu schreiben. Denn ich hatte inzwischen Baumeister wie Henrich Tessenow und Fernand Pouillon entdeckt, die mir überaus bedeutsam erschienen und nicht zur kanonischen Moderne gehörten, und ganze Strömungen wie den abstrakten, verfremdeten Klassizismus der zwanziger und dreißiger Jahre, die ich als wichtigen Bestandteil der Architektur des 20. Jahrhunderts betrachtete. Stolz und nicht ganz ohne provokative Absicht präsentierte ich auf dem Umschlag des Büchleins, das Gerd Hatje intellektuell begleitete und 1980 druckte,47 die Skizzen und die Fotoportraits von Tessenow und Albert Speer neben jenen von Antonio Sant’Elia, Erich Mendelsohn, Alvar Aalto, Le Corbusier, Paul Rudolph, Charles Moore und James Stirling, die jeweils für eine der Architekturströmungen standen, die ich im Text behandelte. Die Einschließung brachte mir den Zorn von Joedicke, den bereits mein öffentliches Engagement zugunsten von Stirlings Projekt für die Erweiterung der Staatsgalerie Stuttgart verstimmt hatte, und die fristlose Entlassung vom Institut ein, aus kultureller Inkompatibilität. Das überraschte und schockierte mich, bestätigte mich aber erst einmal in meinem Selbstverständnis als junger Geschichtsrevolutionär der Architektur. Schon bald musste ich jedoch einsehen, dass ich in Tat und Wahrheit nicht viel weiter als Platz gekommen und aus dem traditionellen historischen Erzählmuster keineswegs ausgebrochen war. Ich hatte es, genau wie meine Vorgänger, übernommen und lediglich durch neue (bei genauerem Hinsehen gar nicht so neue) Verzweigungen und Episoden erweitert. Das war der zweite, weit größerer Schock. Seitdem befasste ich mich, angeregt von den Mikrogeschichten, wie sie in der Buchreihe Microstorie von Giovanni Levi und Carlo Ginzburg zwischen 1981 und 1991 erschienen, nur mehr mit architektur-geschichtlichen Episoden. Einige davon kamen im Hatje-Lexikon der Architektur im 20. Jahrhundert48 zusammen, dessen zwei Ausgaben den Versuch darstellen, ausgewählte historiographische Fragmente übersichtlich aneinanderzufügen und die dazugehörige übergreifende Erzählung jeder Leserin und jedem Leser selber zu überlassen. Mit Jürgen Joedicke habe ich mich später wieder versöhnt. Mit meiner Berufung an die ETH Zürich haben sich meine Forschungsinteressen auf den Städtebau verlagert. An eine eigene Geschichte der Architektur habe ich mich nicht mehr gewagt.


Abb. 11


IV. Der Historiker als empathischer Sherlock Holmes und die Notwendigkeit der Erzählung

Sind Erzählungen aus Sicht des Historikers wirklich abzulehnen, soll, ja kann überhaupt die Architekturgeschichtsschreibung auf sie verzichten? Gehen wir einen Schritt zurück. Eine geschichtliche Erkenntnis liegt vor, wenn aus der Sicht der Gegenwart eine Frage an die Vergangenheit gerichtet und diese mit wissenschaftlichen Methoden beantwortet wird. In jeder guten Detektivgeschichte stellt der Detektiv zunächst eine Hypothese auf, die er dann anhand von Beweisen zu verifizieren versucht. Während die Polizei ebenso beflissen wie kopflos ihren Ermittlungen nachgeht, indem sie den zufälligen Verkettungen der vorgefunden Indizien folgt, konstruiert der Detektiv auf der Basis seiner theoretischen Kenntnis über die großen Paradigmen der Kriminalistik eine mögliche Logik des Falls. Diese Logik misst er erst dann an den Indizien, wenn sie ein ausreichendes Maß an Wahrscheinlichkeit erreicht hat. Er setzt auf die Idee, während sich die Polizeibeamten auf die Fakten stürzen. Es ist vor allem dieses Vertrauen  auf die Idee, das es ihm erlaubt, sich im Verwirrspiel der meist unzureichenden und unzuverlässigen Indizien zurechtzufinden, indem er sie zunächst aus einer distanzierten Sicht und vor einem bereits entworfenen Hintergrund ordnet, gewichtet und darüber den Fall löst.

Ähnlich muss sich der Historiker verhalten. Er muss für sich den Ariadnefaden einer Annahme spinnen, bevor er sich auf das Labyrinth der Fakten einlässt. Wie der gute Detektiv muss auch der gute Historiker eine persönliche Hypothese konstruieren, die es ihm gestattet, die Quellen zu ordnen, ohne sich in ihnen zu verlieren. Dazu benötigt er, wiederum wie sein kriminalistischer Kollege, eine Theorie. Sie wird auf der Kenntnis der großen Paradigmen der Geschichte – in unserem Fall der Geschichte der Architektur – gründen. Das ist nichts anderes als eine möglichst plausible, möglichst umfassende Erzählung: wie jene, die Platz geschaffen hat und seine zahlreichen Nachfolger weiterentwickelt haben. Eine solche Erzählung erlaubt es, die Fakten, in unserem Fall die Architekturen, auszuwählen und in eine sinnfällige Ordnung zu bringen.


V. Fakten und Erfindungen

Fakten, lässt Dorothy Sayers in einem ihrer Kriminalromane den Butler Bunter seine Mutter zitieren, seien wie Kühe: Wenn man ihnen lange genug ins Gesicht blicke, liefen sie in der Regel davon.49 Das ist, natürlich, übertrieben. Denn auf die extrem sorgfältige, extrem genaue Erfassung von Fakten ist die Geschichte der Architektur genauso angewiesen wie jede andere Geschichte, wie jede andere Wissenschaft . Auch unsere Disziplin muss sich unablässig bemühen, fundiert und sachlich den eigenen Horizont zu erweitern. Nur wenn sie das tut, wird sie befähigt sein, die linear deterministischen Geschichtsmuster des frühen 20. Jahrhunderts mit vielseitigeren, reicheren und damit freilich auch komplexeren und widersprüchlicheren wissenschaftlichen Modellen zu ergänzen.

Grundlagen der architekturhistorischen Forschung sind tatsächlich die Fakten, also die Häuser und die Städte. Entdeckt man diese neu, hat man auch neue Grundlagen, neues Material für die Geschichtsschreibung. Dazu genügt es freilich nicht, die Abbildungen in den Architekturbüchern und -zeitschriften Revue passieren zu lassen. Feldarbeit ist ebenso unverzichtbar wie ein neugieriger, scharfer Blick

Geht man mit offenen Augen durch unsere Städte und Landschaften, gewärtigt man immer wieder Bauten, die Aufmerksamkeit wecken und Bewunderung abverlangen. Zuweilen fragt man sich, warum sie in keiner Architekturgeschichte Platz gefunden haben. Umgekehrt fällt manche Pilgerfahrt zu Ikonen der etablierten Historiographie ernüchternd, ja enttäuschend aus. Natürlich sind derlei Urteile zeitbedingt und subjektiv; doch das waren sie schon immer. Eine lebendige Geschichtsschreibung braucht die unablässige Infragestellung und kritische Revision jener, die vor ihr stattgefunden haben. Und zwar eine Revision, die nicht kindischem Trotz oder der oberflächlichen Absicht zu überraschen geschuldet ist, sondern dem Wunsch nach substanziellem Hinterfragen und Neubewerten.


VI. Für eine innovative Architekturgeschichtsschreibung am konkreten Objekt

Dieses Hinterfragen und Neubewerten kann nur am gebauten Objekt stattfinden. Geschichte ist die geordnete Darstellung von Ereignissen, die einer kritischen Untersuchung unterworfen wurden, um sowohl ihre Wahrheit als auch ihre gegenseitigen Beziehungen festzustellen. Ganz gleich, ob die Ereignisse so gedeutet werden, dass die zwischen ihnen bestehenden Beziehungen in ein übergreifendes System eingebunden werden, das Extrapolation von der Vergangenheit auf die Gegenwart und auf die Zukunft zulässt, wie es Immanuel Kant, Georg Wilhelm Friedrich Hegel oder Karl Marx tun, oder ob diesen Ereignissen jegliche Kausalität abgesprochen wird, so dass in den Beziehungen keine oder immer neue, auf jeden Fall nicht verallgemeinerbare Gesetzmäßigkeiten gewärtigt zu werden vermögen, wie Jakob Burckhardt, Walter Benjamin, Karl R. Popper oder Theodor W. Adorno vorführen: Man kann die Ereignisse nur dann genau und plausibel ordnen, kombinieren, deuten, wenn man mit ihnen vertraut ist. Wie auch immer er wissenschaftsideologisch operiert: Die erste Aufgabe (und die erste Pflicht) des Architekturhistorikers ist die vertiefte Auseinandersetzung mit seinem Gegenstand, und sein Gegenstand ist die konkrete Architektur. Je besser er sie kennt, desto fundierter und origineller wird er sie verarbeiten können.

Architektur kann durch Texterläuterungen, Manifeste und Proklamationen begleitet werden, kann durch Exegesen und Preise eine Prädikatserhöhung erzielen; letztlich aber muss sie immer für sich sprechen. Dies vermag sie nur mit ihrer physischen Präsenz: Zeichnungen, Visualisierungen und Fotografien sind nur Surrogate oder zusätzliche Hilfsmittel. Entsprechend physisch muss man sich Architektur aneignen: Man muss sie anschauen, einkreisen, betreten, erleben, anfassen und sogar hören und riechen. 

Es ist aus dieser intensiven, gleichzeitig hochintellektuellen und sinnlichen Aneignung, dass die Erkenntnis neuer Wertigkeiten und Beziehungen entsteht. Daraus ergeben sich wiederum neue Erzählmuster: subjektive zwar, aber nicht tendenziöse. Die Architekturgeschichte, die sich ihrer bedient, wird nicht auf Vorurteile zurückgreifen müssen. Sie wird auch nicht als Fundus bestätigender Referenzen für eine bestimmte Architekturentwicklung auftreten; sondern als Instrument, um sich kritisch mit Vergangenheit und Gegenwart auseinanderzusetzen. Und wird aus ihrem Anspruch, bedeutende Architekturen in eine bedeutsame Ordnung zu fügen, substantielle Hypothese für ein Bauen der Zukunft entwickeln.


Vittorio Magnano Lampugnani war von 1994 bis 2017 Professur für Geschichte des Städtebaus an der ETH Zürich.

1

Eine ausführliche Fassung des folgenden kritischen Überblicks findet sich in Vittorio Magnago Lampugnani: „Eine Geschichte der Geschichte der ‚Modernen Bewegung‘ in der Architektur 1925–1941“, in: ders.:, Voreingenommene Erzählungen. Architekturgeschichte als Ideengeschichte. Zürich: gta, 2016, S. 220–251.

Abb. 1

Adolf Behne: Der moderne Zweckbau. München: Drei-Masken-Verlag, 1926.

2

Adolf Behne: Der moderne Zweckbau. München: Drei-Masken-Verlag, 1926. Neuausgabe in der Reihe Bauwelt Fundamente 1964.

Abb. 2

Gustav Adolf Platz: Die Baukunst der neuesten Zeit. Berlin: Propyläen, 1927.

3

Gustav Adolf Platz: Die Baukunst der neuesten Zeit. Berlin: Propyläen, 1927 (2. Auflage 1930).

4

Ebd., S. 11–12.

5

Ebd., S. 13.

6

Ebd., S. 14.

7

Ebd., S. 13.

8

Otto Wagner zum Beispiel wird als „Vorkämpfer der neuen Baugesinnung in Schrift und Tat“ bezeichnet, ebd., S. 16.

9

„Der Architekt ist Organisator und Führer“, ebd., S. 94. Über Adolf Loos heißt es beispielsweise: „In unverminderter Frische schafft der Sechzigjährige, der vor dreißig Jahren als Führer begonnen und noch heute von der Jugend anerkannt wird, an den Bauaufgaben der Zeit […]“ Und an anderer Stelle: „In der Nachbarschaft der Führer wächst gegenwärtig eine neue Architektengeneration heran [..]“, Platz 1930, a. a. O., S. 26 und 173.

10

Platz 1927, a. a. O., S. 30–31.

11

Ebd., S. 68–69. Auf Seite 43 wird der Stuttgarter Bahnhof von Paul Bonatz als „Pionierleistung“ bezeichnet.

12

Ebd., S. 15.

13

Ebd., S. 53.

14

Ebd., S. 91.

Abb. 3

Walter Curt Behrendt: Der Sieg des neuen Baustils. Stuttgart: Akad. Verl. Wedekind, 1927.

15

Walter Curt Behrendt: Der Sieg des neuen Baustils. Stuttgart: Akad. Verl. Wedekind, 1927.

16

Ebd., S. 57.

17

Ebd.

Abb. 4

Sigfried Giedion: Bauen in Frankreich. Eisen, Eisenbeton. Leipzig: Klinkhardt & Biermann, 1928.

18

Sigfried Giedion: Bauen in Frankreich. Eisen, Eisenbeton. Leipzig: Klinkhardt & Biermann, 1928.

19

Platz 1930, a. a. O., S. 15. Die oben erwähnte Angabe befindet sich auf S. 16. Die École des Beaux-Arts wurde 1797 als École spéciale de peinture, de sculpture et d’architecture gegründet und im Jahr 1819 als École royale et spéciale des Beaux-Arts offiziell bestätigt, die 1794 gegründete École centrale des Travaux Public trug ab 1795 den Namen École polytechnique.

20

Giedion 1928, a. a. O., S. 1.

21

Ebd.

Abb. 5

Henry-Russell Hitchcock Jr.: Modern Architecture. Romanticism and Reintegration. New York: Payson & Clarke, 1929.

22

Henry-Russell Hitchcock Jr.: Modern Architecture. Romanticism and Reintegration. New York: Payson & Clarke, 1929.; Neudrucke 1970 und 1972.

23

Henry-Russell Hitchcock: „The Traditionalists and the New Tradition”, in: Architectural Record 4/1928, S. 337–359; ders.: „The New Pioneers”, in: Architectural Record, 5/1928 (Bd. 63), S. 453–460.

24

“[…] the dark night of the triumphant eclecticism of taste […]”. Hitchcock 1929, a. a. O., S. 6.

25

„Historical criticism should however be able to show that as regards architecture the present is the last realized point in the dialectic of history […]”. Ebd., S. XV.

26

„To trace in full this line of development would be to rewrite the history of architecture for at least the last five centuries. For the phases through which European architecture has passed since the culmination of the High Gothic in the thirteenth century are not to be considered as constituting successive independent styles comparable to those of the earlier past, the Greek or the Egyptian for example, but rather as subsidiary manners of one Modern style.” Ebd., S. XVI.

27

Hitchcock 1929, a. a. O., S. 88–89.

28

„It is worth stressing, since it is a point frequently denied by its theorists, that the new manner constitutes essentially an aesthetic [..]”. Ebd., S. 161.

29

Henry-Russell Hitchcock, Philip Johnson: The International Style. Architecture since 1922. New York: W. W. Norton & Company, 1932.

Abb. 6

Nikolaus Pevsner: Pioneers of the Modern Movement. From William Morris to Walter Gropius. London: Faber & Faber, 1936.

30

Platz 1930, a. a. O.

31

Nikolaus Pevsner: Pioneers of the Modern Movement. From William Morris to Walter Gropius. London: Faber & Faber, 1936.

32

„[..] as far as books on the subject are concerned, this is, if I am not mistaken, the first to be published.” Ebd., S. 6.

33

„The Modern Movement has not grown from one root. One of its essential sources, it has been shown, was William Morris and the Arts and Crafts; another was Art Nouveau. The woks of the nineteenth-century engineers were the third source of our present style, a source as potent as the other two.” Ebd., S. 68.

34

„[…] the genuine and legitimate style of our century [..]”. Ebd., S. 18. Gegen diesen „automatischen“ Determinismus sollte sich Ernst Gombrich in seiner Philipp Maurice Dencke Lecture von 1967 wenden.

35

„[…] Antonio Gaudi […] remained from the beginning of his career to his very death so much of an outsider, with a background so different from that of any of the other pioneers of the late 19th century, and a development in so different a direction from that taken by the Modern Movement, that one remains embarrassed wherever one tries to allot him a historical place.” Ebd., S. 139.

36

„[…] Le Corbusier […] scarcely belongs to a book dealing with pre-war matters; though he has tried in his writings to make himself appear one of the pioneers, he was not among the first comers. His designs for an estate called Domini [sic, A.d.V.], which was to be built entirely in concrete, are certainly very progressive; but they date from 1915, and in 1916 Le Corbusier could still build a private house that does not go beyond the stage reached by Perret or van de Velde before the war. The historian must emphasize this point, because Le Corbusier, partly owing to his magnificent artistic imagination and partly to a certain showmanship, has been taken for one of the creators of the Modern Movement.” Ebd., S. 113.

37

Walter Curt Behrendt: Modern Building. Its Nature, Problems, and Forms. New York: Harcourt, Brace, 1937.

38

James Maude Richards: An Introduction to Modern Architecture. Harmondsworth: Penguin, 1940.

39

Sigfried Giedion: Space, Time and Architecture. The Growth of a New Tradition. Cambridge, Mass.: Harvard University Press, 1941. Den folgenden Untersuchungen wurde die 4., erweiterte Fassung des Buches von 1962 zugrunde gelegt.

Abb. 7

Sigfried Giedion: Space, Time and Architecture. The Growth of a New Tradition. Cambridge, Mass.: Harvard University Press, 1941.

40

Vgl. Sigfried Giedion: Raum, Zeit, Architektur. Die Entstehung einer neuen Tradition, Zürich, München: Artemis, 1976, S. 41. Dort heißt es: „1908 erfasste der große Mathematiker Herrmann Minkowski (1864–1909) als erster eine Welt mit vier Dimensionen, in der Raum und Zeit zu einem unteilbaren Kontinuum verschmelzen. Sein Essay ‚Raum und Zeit‘ des gleichen Jahres beginnt mit der berühmten Feststellung: ‚Von Stund an sollen Raum für sich und Zeit für sich völlig zu Schatten herabsinken und nur noch eine Art Union der beiden soll Selbständigkeit bewahren.‘ Dies fällt in die Zeit, in der in Frankreich und Italien kubistische und futuristische Maler das künstlerische Äquivalent zum Raum-Zeit-Kontinuum schufen, in ihrem Suche nach Mitteln, um heutige Gefühle ausdrücken zu können.“

41

Im Kapitel „Stil und Mode“ schreibt Platz: „Betrachten wir den baukünstlerischen Ausdruck einer Epoche unter dem Gesichtspunkt der Stetigkeit und Dauer, so fällt uns auf den ersten Blick der Unterschied zwischen zwei […] nebeneinander verlaufende[n] künstlerische[n] Bewegungen auf, von denen die eine – dem breiten Strom der Ebene vergleichbar – in großen, stetigen Linien verläuft, während die andere sich in eine Unzahl von Seitenarmen und toten Gewässern verzweigt. Die große Bewegung des Stromlaufs bedeutet für uns die Entwicklung des Stils, die begleitenden Gewässer bilden die launischen Seitensprünge der Mode.“ Platz 1927, a. a. O., S. 162–163. Behrendt merkt an: „Um eine geistige Bewegung, nicht um eine flüchtige Kunstmoder oder irgendeinen neuen Ismus aber handelt es sich bei den Versuchen zu einer Erneuerung der Architektur, mit denen wir uns hier auseinanderzusetzen haben. Für die Ursprünglichkeit dieser Bewertung und für die Tatsache, dass sie aufs innigste mit dem Geistesleben der Zeit verbunden ist, spricht allein schon der Umstand, dass sie internationalen Charakter trägt, dass sie gleichzeitig und mit gleichgerichteten Zielen in verschieden Länder hervorgebrochen ist.“ Behrendt 1927, a. a. O., S. 15. Und Pevsner erörtert (natürlich im Zusammenhang mit Gropius): “However, the great creative brain will find its own way even in times of overpowering collective energy, even with the medium of this new style of twentieth century which, because it is a genuine style as opposed to a passing fashion, is universal.” Pevsner 1936, a. a. O., S. 135.

42

Giedion 1976, a. a. O., S. 43.

43

Giedion 1976, a. a. O., S. 308.

44

Bruno Zevi: Storia dell‘archittetura moderna, Turin: Giulio Einaudi, 1950.

45

Jürgen Joedicke: Geschichte der modernen Architektur, Stuttgart: Hatje, 1958.

46

Leonardo Benevolo: Storia dell’archittetura moderna, Bari: Ed. Laterza, 1960.

Abb. 8

Bruno Zevi: Storia dell‘archittetura moderna, Turin: Giulio Einaudi, 1950.

Abb. 9

Jürgen Joedicke: Geschichte der modernen Architektur, Stuttgart: Hatje, 1958.

Abb. 10

Leonardo Benevolo: Storia dell’archittetura moderna, Bari: Ed. Laterza, 1960.

47

Vittorio Magnago Lampugnani: Architektur und Städtebau des 20. Jahrhunderts. Stuttgart: Hatje, 1980.

48

Vittorio Magnago Lampugnani: Hatje-Lexikon der Architektur des 20. Jahrhunderts (2., grundlegend überarbeitete Auflage 1998). Stuttgart: Hatje, 1983.

Abb. 11

Vittorio Magnago Lampugnani: Architektur und Städtebau des 20. Jahrhunderts. Stuttgart: Hatje, 1980.

49

„[..] facts are like cows. If you look them in the face hard enough, the generally run away.” Dorothy L. Sayers: Clouds of Witness (Original 1926). London: Victor Gollancz, 1958, S. 67.