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I. Bedeutung der Geisteswissenschaften I
In den Jahren 1984 und 1985 erscheinen im Berliner Quadriga Verlag zwei Architektenmonografien unter dem Obertitel: Architekten heute. Der erste Band stellt das Leben und Werk des in Westberlin ansässigen Georg Heinrichs vor, der zweite den in Stuttgart beheimateten Architekten Frei Otto.1 Beide Bände sind von Frauen geschrieben, die eine arbeitet seit langem im Deutschen Werkbund und ist Journalistin, die andere ist Kunsthistorikerin. Dieser Sachverhalt der weiblichen Autorenschaft im Feld des Architekturdiskurses verdient Erwähnung, weil das Sprechen über Architekten und deren Arbeit, über Bauten und Stadtplanungen auch zu Beginn der 1980er Jahre im Wesentlichen ein den schreibenden Kollegen vorbehaltenes Privileg ist. Tatsächlich sind Autorinnen zu jener Zeit im Umfeld der medial ausgetragenen Architekturdebatten ebenso selten wie Architektinnen, die in der Bundesrepublik Deutschland eigene Entwurfsbüros betreiben oder als Entwurfsprofessorinnen an Technischen Universitäten oder Kunsthochschulen in akademischen Würden tätig sind. Das wird sich allerdings in jenen Jahren langsam ändern, denn an die Hochschule der Künste in Berlin wird 1984 Ingeborg Kuhler als erste Frau dieser Profession berufen, vier Jahre später erhält die in Graz ansässige deutsche Architektin Karla Kowalski einen Ruf auf den Lehrstuhl für „Öffentliche Bauten und Entwerfen“ an die Universität Stuttgart.2
Jene erwähnte Reihe der zeitgenössischen Architektenporträts sollte anders als geplant nach 1985 nicht fortgeführt werden – die Gründe dafür sind vielfältig gewesen. Wem man also die Ehre erwiesen hätte, als weiterer Protagonist der „begabtesten Architekten der Nachkriegs-Generation“3 monografisch vorgestellt zu werden – mit diesem Anspruch hatte der Mithausgeber Wolf Jobst Siedler diese Reihe eingeführt –, wer als dritte oder vierte Person des damaligen Architekturgeschehens hätte vorgestellt werden sollen, bleibt also im Dunkeln; und damit die Überlegung, ob es abermals eine Autorin gewesen wäre, die ein solches Porträt hatte schreiben sollen.
Nicht abwegig ist die Vermutung, dass dieser dritte Band keiner Architektin wie zum Beispiel Kuhler oder Kowalski gewidmet gewesen wäre; und eine 1906 geborene Lucy Hillebrand, die in Deutschland die Nazizeit als Jüdin überlebt und im Göttingen der Nachkriegszeit auch reformpädagogisch geprägte Schulbauten vorgestellt hatte, war zu dem Zeitpunkt außerhalb des Blickfeldes.4 Was man hingegen annehmen kann ist, dass der Band, der auf die Werksmonografie Frei Ottos gefolgt wäre, abermals einen Architekten porträtiert hätte, jemanden wie Oswald Mathias Ungers, Hans Hollein, vielleicht Günter Behnisch oder den gerade ins Rampenlicht getretenen James Stirling. Immerhin hatte Stirling mit der Eröffnung der Neuen Staatsgalerie Stuttgart soeben für eine breite publizistische Aufmerksamkeitswelle gesorgt, die dieses Projekt zu einem „folgenschweren Schritt in eine neue Richtung“5 und zum Abschied vom Kanon moderner Architektur stilisierte.
Stirlings Museumsneubau hatte in seinem kompilierten, auch den Traditionen des klassizistischen Museumsbaus huldigenden Formenrepertoire und einer kontrastreich-farbigen Materialität tatsächlich konzeptionell mit ästhetischen Maßstäben gebrochen, die die im sachlich-operativen Modernerepertoire angelegten Entwurfshaltungen Georg Heinrichs oder Frei Ottos ausgezeichnet hatten. Unbestreitbar kehrte im Stuttgarter Stirlingbau eine typologisch und bauhistorisch en détail angelegte Collagetechnik, mithin eine Nuance des stilistischen Historismus zurück, von der sich die Architekturmoderne einst ebenso programmatisch verabschiedet hatte wie man sich jetzt unter dem Begriff der Postmoderne wiederum von dieser lossagte. Was sich hinter jenem Begriff verbarg, darüber wurde in den verschiedenen Wissensdisziplinen damals gerungen; im Architekturdiskurs der frühen 1980er Jahre verstand man darunter eine zeichensetzende Architektur, eine, die das historisch geprägte urbane Umfeld angemessen respektierte und der bauwirtschaftlich organisierten regionalen und städtischen Bestandszerstörung Einhalt zu gebieten versprach. Die richtungsweisende Zukunft dieser Architektur bekundete zu Beginn der 1980er Jahre also eine neue Ära, eine, in der Architekten wie Heinrichs oder Frei Otto zu jenen Akteuren gezählt werden durften, die die ins „Schleudern geratene Moderne“6 repräsentierten.
Was sich da im postmodernen Formenrepertoire Stirlings als Zeichen einer mehrdeutigen Modernekritik materialisierte, war im Theoriediskurs zur Ökonomie und Formensprache modernen Bauens bereits seit den 1960er Jahren vorbereitet worden. Dabei sind es gerade italienische Architekten-Autoren wie Aldo Rossi oder Manfredo Tafuri gewesen, die mit ihren transdisziplinär angelegten Untersuchungen die Spurensuche der historischen Architekturproduktion auch durch die Einbeziehung eines weit gefassten geisteswissenschaftlichen Theorieumfeldes neu ausrichteten. Bereits 1966 hatte sich Aldo Rossi in seinem Buch L´Architettura della Città auf Texte bezogen, die im Gefolge der sensualistisch geprägten Städtebauschriften Camillo Sittes derweil in den Vereinigten Staaten von Amerika entstanden waren. Was in Rossis gebildeten Darlegung allerdings erstaunt, ist die Tatsache, dass eine der seit 1961 viel diskutierten Schriften zum Stadtdiskurs, die in der Tradition der bereits berühmten Chicago School of Sociology stehende Untersuchung Death and Life of Great American Cities der Soziologin Jane Jacobs, nicht einmal erwähnt wird. Vermutlich deshalb, weil Jacobs zu „Beginn ihrer Karriere“, so vor einiger Zeit der Stadtplaner Johannes Novy, „wegen ihrer mangelnden akademischen Ausbildung in der von Männern dominierten Profession noch als ‚Hausfrau‘“7 belächelt wurde.
Trotz dieser Rezeptionslücke bleibt Rossis Kenntnis der Wissensgebiete im Umfeld der französischen Philosophie und Ethnologie bis heute ungemein erhellend. Unter diesem Einfluss hat Rossi dann die Narrative der Architekturgeschichte und -theorie, wie z.B. die Relevanz der Baudenkmäler in sich wandelnden, ausufernden Stadtsystemen des 20. Jahrhunderts, mit der damals in Vergessenheit geratenen Theorie des Kollektivgedächtnisses des im KZ Buchenwald ermordeten Maurice Halbwachs verschränkt.
II. Bedeutung der Geisteswissenschaften II
Aber auch Rossis Architekturbetrachtung und Integration geisteswissenschaftlichen Wissens in Untersuchungen zur Geschichte und Theorie der Architektur war nicht einzigartig und das Projekt forschender Architektenköpfe allein. Ein wenig früher noch als Rossi hatte sich die US-amerikanische Architekturhistorikerin Sibyl Moholy-Nagy mit Konzepten der Erinnerungskultur und deren Bedeutung in der Entwicklung des Stadtbauens auseinandergesetzt. Mit ihrer Analyse, dass die Wiederkehr struktureller Elemente der Raumgestaltung und deren Transformationen durch die schöpferische Intuition des Entwerfers die Dynamik der historischen Stadt- und Bauproduktion ausgemacht habe, bezog sich Moholy-Nagy auf Untersuchungen des jüdischen Philosophen Henri Bergson, eines Lehrers von Halbwachs. Diese methodische Prägung wird sie dann 1968 in ihrem Buch Matrix of Man. An Illustrated History of Urban Environment (deutsch als Die Stadt als Schicksal. Geschichte der urbanen Welt) wesentlich vertiefen. Die in diesem Werk vorgelegte tour d´ horizon durch die Geschichte des Städtebauens hatte, wie sie schrieb, nach „Urtypen […] und nach Beispielen des städtischen Ursprungs“8 gefahndet, um nicht nur die Nuancen einer Archetypenlehre der städtischen Raumproduktion historisch auffächern zu können, sondern auch deren Transformationen in die Formensprache der modernen, zeitgenössischen Architektur zu erkennen (ebenso wie die unübersehbaren Verluste). Ganz ähnlich wie Aldo Rossi vertrat Moholy-Nagy in ihren anthropologisch angelegten Untersuchungen eine Planungspraxis, wie sie dann der italienische Architekt im Begriff der „analogen Stadt“ konzeptionell entwickeln sollte. Für Rossi bedeutete das, dass die Architekten und Städteplaner die jeweils neu zu entwickelnde „Architektur […] in Beziehung zu den vorhandenen Dingen und zur Stadt, zu den Ideen und der Geschichte“9 zu entwerfen hätten.
Im Theoriemodell Sibyl Moholy-Nagys wird die Praxis des Städteplanens ganz ähnlich konfiguriert. Bei ihr als gemeinschaftspflegliche Kombination aus alten und neuen, historisch tradierten und aktualisierten Strukturen, wobei Typologien und Maßstabsparameter zu beachten seien. Die Planungspraxis eines gegenwartsbezogenen urbanen oder landschaftsorientierten Bauens habe daher im Bewusstsein des jeweiligen ortsdefinierenden, strukturellen Kontextes der jeweiligen „Landschaftsform und den klimatischen Bedingungen“, eben „geomorphisch“10 zu erfolgen. Mit dieser Programmatik hat sie 1969 eine bis dahin beispiellose Attacke gegen die selbstreferentielle Ignoranz einer Nachkriegsmoderne begleitet, wie sie Marcel Breuer im Bürohausprojekt der 55-Stockwerks-Überbauung des New Yorker Grand Central Terminal 1967 vorgeschlagen hat. Für Moholy-Nagy war die moderne Architektur europäischer Vorkriegsprägung hier vollkommen auf die Spur der technokratischen Ökonomisierung eingeschwenkt mit dem Ergebnis, die Zerstörung historisch überlieferter Stadträume zu organisieren und andernorts eine landschaftsbezogene Raumplanung außer Acht zu lassen. Entsprechend wandte sie sich gegen die rein technisch effizient angelegten Entwicklungsprojekte aus Clusterstrukturen, wie sie soeben die „urban system planers“ andachten und, wie von William Morgan in Florida, als vorfabrizierte Stapelware zur Überbauung von Autobahnen vorgeschlagen wurden. Tatsächlich folgten solche Überbauungsprojekte im Konzept geradezu autistisch den Geboten des sich dem Bodenverwertungsdruck anpassenden Bauens.
Doch dieser Aspekt ist nur ein Element jenes die Postmoderne einleitenden architekturhistorischen Diskurses gewesen. In den Untersuchungen der Sibyl Moholy-Nagy schwang bereits eine zweite Diskursebene mit. Es ist die technokritische Position des Feminismus, die die österreichische Philosophin Elisabeth List dann 20 Jahre später als existentielle Verlusterfahrung des „Lebendigen“ beschreiben wird. Tatsächlich kündigte sich in den Clusterkonzepten nicht nur die Veränderung der Bauproduktion selbst, sondern ebenso der substantielle Eingriff in den Prozess des Entwerfens mithilfe technischer Apparaturen an. Es war die Morgenröte einer Computertechnologie und ihrer virtuellen Weltentwürfe, in denen, so Elisabeth List später, die „Möglichkeit eines Lebens jenseits der psychophysiologischen Konstellation alltäglicher, leibgebundener Sinnlichkeit und Sinnerfahrung“11 vorbereitet wurde. Die 1969 am Pratt Institut New York emeritierte Professorin Sibyl Moholy-Nagy hat diese Entwicklung als Entwertung des kreativen Architektenberufs wahrgenommen. Sie diagnostizierte, dass der zeichnende Architekt seine intuitive, phantasiebegabte leiblich-handwerkliche Kompetenz offenbar an die Maschine, sprich den Computer delegiere. Auch diese zukünftige Entwicklung vollziehe sich, so ihre Analyse, vor dem Hintergrund einer grundsätzlichen Entfremdung vom sensiblen, künstlerisch konzipierenden Architektenwissen. Um aber diesen Prozess steuern zu können sei es notwendig, den umfassend zivilisationshistorisch gebildeten Architekten gesellschaftspolitisch zu stärken. Nur ein Architekt dieser Prägungen werde in der Lage sein, künftig als Produzent oder „maker of human environment“12 ein lebendiges Zukunftsterrain für die Stadt, die Region und die zu pflegende Landschaft zu entwerfen. In diesem Sinne hat Sibyl Moholy-Nagy als erste Gastprofessorin an der Architekturfakultät der TH Braunschweig ihre Studentinnen und Studenten 1965 vor einer neuen sozialen Figur warnen wollen, einer Figur, die der Schweizer Claude Schnaidt dann 1969 als „Architechnokraten“ bezeichnet hat.13 Unter dieser Perspektive betrat die Charaktermaske des Fachidioten die Planungsszene der Architekturproduktion, die, so Schnaidts Prognose, künftig gerne und bereitwillig die „Hoffnung [nährt], dass der Computer alle unsere Probleme lösen wird“14 propagierte.
Vor dieser Vision einer neuen technologisch dominierten Kreativitätsentfremdung hat der Verweis auf die Notwendigkeit des kulturhistorischen Wissens im Prozess des Entwerfens an Bedeutung gewinnen können. Der Kunsthistoriker Heinrich Klotz, der die bundesdeutsche Wiederaufbauarchitektur in den 1970er Jahren mit dem Begriff des „Bauwirtschaftsfunktionalismus“ belegt hatte, und dabei die Kapitalismuskritik am funktionalistischen Stadt- und Architekturprogramm Alexander Mitscherlichs von 1965 verarbeitete, wird 1980 die neuen Tendenzen einer bildmächtigen, postmodern genannten Baukunst vorstellen, die die Architektur „aus ihrer primären Aufgabe funktioneller Dienstleistung“15 gleichsam zu erlösen versprach.
Die Monografien zu Georg Heinrichs und Frei Otto sind in diesem Diskursmilieu konzipiert worden. Nicht zuletzt ging es damals auch um die Klärung einer Frage, die soeben Jürgen Habermas formuliert hatte: Ob sich im Wiederaufbaueinerlei und seiner architektonischen „Scheußlichkeiten“ jetzt „das wahre Gesicht der Moderne“ gezeigt habe, oder ob es sich dabei nicht eher um „Verfälschungen ihres wahren Geistes?“16 handele. In Anna Teuts Darstellung wird die beobachtete Entgleisung der Moderne vor dem Hintergrund einer offensiven Ökonomisierung im Massenwohnungsbau gleichsam als Notfall der ästhetischen Wirkung angeschnitten. Ihr Resumée, dass die Architektur Heinrichs einem „Prosa-Text“ ähnlicher denn einem „Gedicht“17 sei, diagnostizierte die Verfälschung des „wahren Gesichtes“ im Verlust signifikanter Raumwirkungen. Die Untersuchung zur Entwurfsarbeit Frei Ottos wird im Gegensatz dazu diese ästhetische Signifikanz im Rückgriff auf die naturwissenschaftlich geprägte Baumeisterlichkeit der Ingenieurbauten wiederentdecken; und in der Programmatik des anpassungsfähigen Bauens die gesellschaftspolitische Utopie des Bruno Taut. Der Wunschtraum von der Erde als einer guten Wohnung, den Taut in malerischer Schönheit gleichsam als Friedensbotschaft in die moderne Zeit der 1920er Jahre geschickt hatte, harrte seiner Realisierung.
III. „Architekturlandschaft“ und das Prinzip Volière
Zur Zeit des Porträtbuchs zu Frei Otto ist die für den Münchener Tierpark Hellabrunn entwickelte Volière seit 1980 für das Publikum geöffnet. Der Architekt und Landschaftsplaner Jörg Gribl hatte für sein Konzept des großen Freiflug-Vogelhauses eine Raumhülle angedacht, die einer „über dem Boden schwebenden Wolke“ gleichen sollte. Die Möglichkeit, ein solch atmosphärisch fluides Raumgebilde bautechnisch realisieren zu können, hatte Otto seit 1966 im Stuttgarter Institut für leichte Flächentragwerke mit seinem Team forschend vorbereitet. Hier waren Raumkonzeptionen entwickelt worden, die wandelbar, konstruktions- und materialbezogen leicht, also orts- und nutzungsangepasst geplant werden konnten. Dass in diesen Zelt-, Netz- und pneumatischen Modellen eine Architekturvision Gestalt erhielt, von der Arthur Schopenhauer 1820 im Gegenentwurf zur monumentalen starren Materie des Steinbaus vorausschauend geschrieben hatte, sei kurz angemerkt. Sein Hinweis, „[…] daß die Baukunst […] das Wesen des Lichtes, […] in seiner Wirksamkeit zu entfalten und zu offenbaren“18 habe, sollte in der Glas-Eisenarchitektur jene neue Hellraum-Ästhetik begründen, die das Erscheinungsbild modernen Bauens nachhaltig beeinflusste. In dieser Tradition entstanden die vorgespannten Seilnetzkonstruktionen mit den lichtdurchlässigen Membraneindeckungen des Deutschen Pavillons zur Weltausstellung in Montreal 1967. Hier war die Idee einer atmosphärisch geprägten Baukunst auf erweiterter technischer Stufenleiter im großen Maßstab umgesetzt worden. In Zusammenarbeit mit dem Stuttgarter Architekten Rolf Gutbrod war eine „Architekturlandschaft“19 entstanden, wie Jürgen Joedicke in Erweiterung des herkömmlichen Architekturbegriffs diese offenen Bewegungsräume inzwischen zu nennen vorschlug. In diesen vom Licht, vom Luftigen, vom Fluiden durchwirkten Zeltbedachungen ereignete sich die Entstofflichung der kompakten Architekturform zum Raumgewebe schimmernder Texturen. So entstand ein offener Bewegungsraum, in dem die ungezwungene Durchquerung die Empfindung evozierte, sich gleichsam in einer befreiten Zone aufzuhalten.
Von diesem Wendepunkt der Architektur zur offenen „Architekturlandschaft“ im weiter entwickelten Konzept der „natürlichen Konstruktionen“, die soeben am Stuttgarter Institut für leichte Flächentragwerke entwickelt werden, zeugt die Konzeption der Münchener Volière in besonderer Weise. Denn sie entstand in einer Zeit, in der die 1972 veröffentlichte Untersuchung des Massachusetts Institute of Technologie über „Die Grenzen des Wachstums“ soeben eine breite Öffentlichkeit für die Zerstörungen der natürlichen Umwelt sensibilisierte. Vor dieser Analyse einer extensiven Naturzerstörung war das Konzept Gribls für ein Freifluggehege von der Idee beseelt, eine nahezu unsichtbare Raumhülle zu entwickeln, die selbst wie ein Teil der vorgefundenen Landschaft, gleichsam wie ein Stück unangetasteter Natur wirken würde. Als sich nach der Fertigstellung das Maschinengewebe mit einer Maschenweite von 60x60mm über die nahezu 5000 qm umfassende Grundfläche dieser weitgehend stützenfreien Großvolière legt, empfindet man das Maschinengewebe wie einen diffusen Schleier. Dessen Konturen werden in der Höhenentwicklung durch mehrere Stahlrohrmasten moduliert, so dass die Zwergflamingos, Nashornvögel, Ibisse, Sichler, Löffler, Tukane, Seidenreiher und andere exotische Vogelarten in „unterschiedlichen Raumzonen“20 nisten und brüten können. Bei den Besuchern, die entlang eines kleinen Bachlaufes in unmittelbarer Nähe zu den frei fliegenden Vögeln spazieren, mag im Stimmengewirr der fremden exotischen Arten die Erinnerung an jenen Typus der Volière wachgerufen werden, der einst als Bestandteil einer künstlich-sentimentalischen, „gleichsam enzyklopädisch“21 angelegten Weltkulturmontage seinen Ort in den Schlossgärten des ausgehenden Rokoko gefunden hatte. Ernst Bloch ließ diesen Gedanken des enzyklopädisch geprägten Raumes in seinem Monumentalwerk zum allumfassenden Prinzip Hoffnung aufleben, um die Präsenz dieser elysischen Traumwelten in Erinnerung zu rufen.
Bereits in den 1890er Jahren hatte der Kunsthistoriker August Schmarsow solche Pavillon- und Laubenarchitekturen „aus Rohrstäben und Bastgeflecht“ als stilistische Prototypen einer neuartigen „malerischen Baukunst“ beschrieben, die die konstruktive Idee der „leichten Prinzipen der Zeltarchitektur“22 wiederbelebte. Schmarsow argumentierte wirkungsästhetisch und präsentierte die Assoziation, dass diese Baukunst nicht „fanfarisch schmetternd“, sondern „Äolsharfen“23 gleich, wie vom Wind durchweht, ertöne. Der Architekturschriftsteller Gerd de Bruyn wird 2013 eine Potsdamer Variante dieser enzyklopädisch-malerischen Raumprägungen als eine Szenerie seines „Musikalischen Romans ‚Die Heldin‘“ aufgreifen.
Im Umfeld solcher Gartenanlagen mit ihren verschiedenen Menagerien, begegnete man den Bewohnern der Lüfte stets in ihrer eingehegten Gefangenschaft, wenn nicht in Käfigen so doch im pavillonartig errichteten Vogelhaus der Orientmoden und später zumeist in Mischformen, die den menschlich geprägten zivilisierenden Behausungsgedanken ausdeuten.
Von diesen Konzepten hatte man sich in Hellabrunn deutlich distanziert. Ein wesentlicher Schritt in diese Richtung war durch den an der Londoner Architectural Association ausgebildeten Cederic Price mit dem zwischen 1960 und 1965 entstandenen London Zoo Aviary beschritten worden. Price entwickelte einen stützenfreien Luftraum, dessen Kubatur durch im Boden verankerte Aluminiumtetraeder definiert wird. Darüber ist ein Metallgitter gespannt, sodass die darunter angelegte Landschaft frei begehbar bleibt. Prices Konstruktion war über viele Jahre in aufwendigen Verfahren statisch geprüft und das „Tragverhalten“ in langwierigen Untersuchungen auch am Computer simuliert worden. Zwanzig Jahre später wird die konstruktive Präzision der Münchener Volière gleichfalls in technischen Computersimulationen Schritt für Schritt und in Zusammenarbeit mit dem Londoner Ingenieurbüro Happelt entstehen. Der eigentliche Formfindungsprozess aber wird im händisch verfertigten Modellbau am Institut für leichte Flächentragwerke geradezu feingliedrig ausgetestet; und dies in einer Arbeits- und Forschungsatmosphäre, die nichts von einer Architechnokratie an sich hat. Mit solchen Prozessen des „making of human environment“ – wir erinnern uns an Sybil Moholy-Nagy – erhält sich die „leibgebundene Sinnenerfahrung“, von der Elisabeth List sprach, unmittelbar. Im Akt dieses Machens verwirklicht sich die handwerklich-sinnliche Komponente des Entwerfens – unzweifelhaft im Duktus des Poiesis-Gedenkens. Es ist diese Eigenart im Prozess der Formfindung, die den Effekt der malerisch-atmosphärischen Erscheinung der Münchener Volière im Vergleich mit der Londoner Lösung begründet. Der Londoner Bau betont die Stereometrie der Konstruktionsform und bleibt bei aller Durchlässigkeit doch ein sichtbares Architekturgehäuse, das standhaft ist. Die Münchner Architekturlandschaft hingegen legt sich als höhenmodulierte Hülle über den Boden und scheint wie ein Gespinst labil zu sein. „Wenn ich […] durch die Voliere wandere, dann kann ich vergessen, daß es sich um einen ‚Bau‘ handelt. Ich kann die Architektur vergessen“24 wird Frei Otto 1980 schreiben. Diese Empfindung, sich gleichsam in freier Natur zu bewegen, sich aber de facto in einem eingezäunten Areal aufzuhalten, offenbart dabei in aller Unschuld die inhärente Dialektik des Schutzraums Volière. Als Otto 1981 den Architekturpreis des BDA Bayerns erhält, liest man in der Laudatio, dass hier vermutlich nur die Vögel „ihre Grenzen als Einschränkung ihrer völligen Freiheit zu erkennen vermögen.“
Was hier arglos als Strukturmerkmal der Reservation Volière innerhalb des Reservats Zoologischer Garten beschrieben wird, offenbart nun die Doppeldeutigkeit dieser unterhaltsamen Fürsorglichkeit für die Natur. Denn dieser Ort ist zugleich ein Symbolraum der menschlichen Naturaneignung, der das Prinzip Volière als Kontrollraum ganz eigener Art inszeniert. In der Anschaulichkeit der friedlich behüteten Vogelwelt unter einem weit und hoch gespannten Dach, das ein Käfig nicht sein will, aber ist, verflüchtigt sich dieser Kontrollaspekt in der Anschaulichkeit des gleichsam paradiesisch-unberührt geschützten Volumens. So verweist die Volière als Prinzip zwar unterschwellig auf die menschliche Okkupation der Natur und Umwelt, erinnert an ihre „Verwüstungen“25, und erhält doch zugleich in der Schutzgeste der „Architekturlandschaft“ das Wunschbild von der guten Wohnung Erde.
Aus dem gebildeten Wissen um diese Dialektik entstehen heute ökologisch disponierte Bauten, auch und gerade von Architektinnen, die im Geleitzug der von Heinrich Klotz konstatierten „Zweiten Moderne“ die Erinnerungen an die Versprechungen des Prinzips Volière aufgreifen: Es ist eine reflexive Architektur, die in Varianten natürlicher Konstruktionen den Zauber des Naturschönen wieder ins Gedächtnis ruft und für diesen Impuls, wie in Anna Heringers Konzepten, naturmimetische Raumbilder (er)findet – vielleicht als ein Minenspiel des wahrhaften „Gesichts der Moderne“.
Karin Wilhelm war von 2001 bis 2012 Professorin für Geschichte und Theorie der Architektur und Stadt an der Technischen Universität in Braunschweig.
1
Anna Teut: Portrait Georg Heinrichs (=Architekten heute 1). Berlin: Quadriga, 1984; Karin Wilhelm: Portrait Frei Otto (= Architekten heute 2). Berlin: Quadriga, 1985.
2
Siehe dazu: Karin Wilhelm: „‚Das Auge wandert mit‘: Die Architektin Ingeborg Kuhler“, in: Christina Budde u.a. (Hg.): Frau Architekt. Seit mehr als 100 Jahren: Frauen im Architektenberuf (Ausstellungskatalog DAM), Tübingen Berlin: Wasmuth, 2017, S. 221–226; Karin Wilhelm: Idea and Form. Häuser von Houses by Szyszkowitz + Kowalski. Basel: Birkhäuser, 2003.
3
Wolf Jobst Siedler: „Das Bauen der beiden Republiken…“, in: Teut 1984, a. a. O., S. 7.
4
Siehe dazu: Karin Wilhelm: „Raum-Spiel – Spiel-Räume. Lucy Hillebrand“, in: Das Verborgene Museum. Berlin 1991.
5
Thorsten Rodiek: James Stirling. Die Neue Staatsgalerie Stuttgart. Stuttgart: Hatje, 1984, S. 10.
6
Jürgen Habermas: „Moderne und postmoderne Architektur“, in: ders.: Die Moderne – ein unvollendetes Projekt. Philosophisch-Politische Aufsätze. Leipzig: Reclam, 1992, S. 60.
7
Johannes Novy: „Auf den Spuren von Jane Jacobs“, in: ARCH+ 176–177/2006 (Bd. 38), S. 8.
8
Sibyl Moholy-Nagy: Die Stadt als Schicksal. Geschichte der urbanen Welt. München: Callwey, 1970, S. 16.
9
Aldo Rossi: Die Architektur der Stadt. Skizze zu einer grundlegenden Theorie des Urbanen, (ital. Erstveröffentl. 1966) (=Bauwelt Fundamente 41). Düsseldorf: Bertelsmann, 1973, S. 9.
10
Novy 2006, a. a. O., S. 19.
11
Elisabeth List, Erwin Fiala (Hg.): Leib, Maschine, Bild. Körperdiskurse der Moderne und Postmoderne. Wien: Passagen-Verlag, 1997, S. 124. Es sei in diesem Zusammenhang auf Forschungen von Hilde Heynen zu feministischen Positionen Sibyl Moholy-Nagys hingewiesen.
12
Sibyl Moholy-Nagy: „What distinguishes the current American crises from all earlier ones…, (Amerika und die städtische Krise)“ in: Architectures, Formes, Fonctions 15/1969, S. 48 (alle Beiträge in Englisch, Französisch, Deutsch, Spanisch, Italienisch).
13
Siehe dazu: Karin Wilhelm: „Moholy-Nagy in Braunschweig“, in: Arne Herbote, Martin Peschken, Christian von Wissel (Hg.): Fund-Stücke. Reflexionen über Objekte der Sammlung für Architektur und Ingenieurbau der TU Braunschweig (saib) (=Veröffentlichungen der Universitätsbibliothek Braunschweig 19). Braunschweig: Universitätsbibliothek Braunschweig, 2018, S. 54f.
14
Claude Schnaidt: „Die Architechnokraten“, in: List Fiala 1997, a. a. O., S. 47.
15
Heinrich Klotz: Moderne und Postmoderne: Architektur der Gegenwart 1960–1980. Braunschweig, Wiesbaden: Vieweg, 1984, S. 134.
16
Rodiek 1984, a. a. O.
17
Teut 1984, a. a. O., S. 22.
18
Arthur Schopenhauer: Metaphysik des Schönen, Philosophische Vorlesungen Teil 3 (hg. von Volker Spierling). München: Piper, 1985, S. 138.
19
Jürgen Joedicke: Moderne Architektur. Strömungen und Tendenzen (=Dokumente der Modernen Architektur 7). Stuttgart: Karl Krämer, 1969, S. 162.
20
Heinrich Klotz (Hg.): Jahrbuch für Architektur 1980–81. Braunschweig: Vieweg, 1981, S. 140.
21
Ernst Bloch: Das Prinzip Hoffnung (Bd. 1). Frankfurt a. M.: Suhrkamp, 1976, S. 452.
22
August Schmarsow: Barock und Rokoko. Das Malerische in der Architektur (Reprint der Originalausgabe von 1897). Berlin: Gebr. Mann, 2001, S. 350.
23
Bloch 1976, a. a. O., S. 353.
24
Stellungnahme Frei Otto, Stuttgart 5. August 1980, Südwestdeutsches Archiv für Architektur und Ingenieurbau (saai), Fo-AK-108,1.
25
Theodor W. Adorno: Ästhetische Theorie. Frankfurt a. M.: Suhrkamp, 1973, S. 98.