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Die Ausgangslage meines Berichts ist zugegebenermaßen unkomfortabel. Warum? Weil das Thema der Deutungshoheit in der Stuttgarter Theorielehre um 1970 nie Gegen-stand öffentlicher Auseinandersetzungen war, geschweige denn je irgendwo publiziert worden wäre. Das, wovon ich berichten werde, hat somit offiziell nie stattgefunden. Überdies sind die mutmaßlichen Hauptakteure allesamt längst verstorben, und selbst die Zeitzeugen werden immer spärlicher. Noch dazu bin ich selbst alles andere als objektiv, war ich doch mit einem der beteiligten Protagonisten über ein Jahrzehnt hinweg beruflich eng verflochten. Und da sich das Ganze sage und schreibe bereits vor fünfzig Jahren, also weit zurückliegend im vergangenen Jahrhundert abgespielt hat, dürfte es für jüngere Architekten vermutlich kaum noch von produktivem Interesse sein.
Mit dem IGmA-Gründer habe ich erstmals Bekanntschaft gemacht in jenem schrecklichen Alter, in dem Eltern und Verwandte damit anfangen gebetsmühlenartig nachzufragen: „Was soll denn nur mal aus dem Bub werden?“ Zu meinem 14. Geburtstag schenkte mir mein Onkel 1958 ein Buch, verknüpft mit dem hinterlistigen Kommentar: „Lieber Neffe, wäre Architektur vielleicht nicht mal was für Dich?“. Das Buch trug den Titel Geschichte der modernen Architektur, sein Verfasser war ein gewisser Jürgen Joedicke. Ich war zugegebenermaßen wenig begeistert, las gelangweilt ein paar Zeilen des für mich gänzlich unverständlichen Textes, und legte das Geschenk ganz weit weg. In ein derartiges Thema beruflich einmal selbst involviert zu sein, das war für mich seinerzeit eine abwegige Vorstellung.
Doch es kam wie so oft im Leben anders. Unter dem wachsenden Druck, nach dem Abitur doch nun endlich ein „anständiges“ Studium aufzunehmen, rang ich mich eher widerwillig dazu durch, an der TH Hannover eine Aufnahmeprüfung zu machen und ein Architekturstudium zu beginnen. Den Namen Joedicke hatte ich damals längst vergessen. In Hannover war die Lehre jedoch so „steinzeitlich“, dass man aus Entwurfskorrekturen hinauskomplimentiert wurde, wenn man nur den Namen Le Corbusier beziehungsweise dessen späte Werke erwähnte. Und die Baugeschichte hörte tatsächlich bei Georg Ludwig Friedrich Laves auf. Daher beschloss ich, gegen Ende des Jahres 1967, unmittelbar nach dem Vordiplom, an die damalige TH Stuttgart zu wechseln, wo es angeblich progressiver zugehen sollte.
Dort angekommen platzte ich mitten in die Studentenrevolte hinein. Diese fiel an der Architekturfakultät in Stuttgart zwar längst nicht so heftig aus wie in Berlin oder andernorts. Gleichwohl bedeutete für mich, der ich von Hannover kaum mehr als das unterwürfige Nachbeten von Lehrinhalten gewohnt war, der neue Studienabschnitt in Stuttgart das reinste Chaos, weil für mich als „Reingschmeckten“ jegliche Orientierung an der neuen Uni so gut wie aussichtslos war. Viele der Lehrstühle und ihre Professoren, mit denen ich ja noch gar keine Bekanntschaft machen konnte, hatten unter dem Ansturm wütender Kommilitonen gleichsam über Nacht ihren Dienst quittiert und wesentliche Lehrangebote eingestellt. So hetzte ich von einem vakanten Lehrstuhl zum nächsten, von einem Protest-Meeting zur nächsten Vollversammlung, von einem Sit-In zum nächsten Rektorats-Go-In. Nur wenige der alten Professoren besaßen den Mut und die Chuzpe, sich den kritischen Fragen der Protestierenden in lautstarken Massenveranstaltungen auszusetzen. Besonders in Erinnerung geblieben ist mir, wie sich der eloquente und eigentlich so selbstsichere Rolf Gutbrod einem voll besetzten, tumultartig agierenden Auditorium mutterseelenallein gestellt hat. Und wie unsachlich er dabei attackiert und persönlich diffamiert worden ist. Das war schon grausam, nicht nur für Gutbrod. Die Folgen sind bekannt. „Ende der 60er Jahre“, schreibt Wolfgang Schwinge, „hat die ‚Alte Garde’ der Stuttgarter Nachkriegsschule die Universität – teils resignierend, teils im Zorn – verlassen“.
Eines wurde in all den Auseinandersetzungen aber sehr bald deutlich: Was wir jenseits individueller politischer Implikationen einforderten, das war eine vorrangig sozial ausgerichtete Verwissenschaftlichung des Architekturstudiums. Das freikünstlerische architektonische Entwerfen wurde kurzerhand als unsozial und reaktionär gebrandmarkt, jegliche Form von Bauen als Umweltzerstörung abqualifiziert. Damit begann die Zeit jener Diplomarbeiten, die nicht mehr als künstlerisch ausgefeilte Objekt- oder Städtebauentwürfe abgeliefert wurden, sondern als Konvolute dicker Aktenordner voller wissenschaftlicher Grundlagenforschungen zu den jeweils gestellten Entwurfsaufgaben. Ich selbst erhielt einen Job als studentische Hilfskraft an Walter Kroners Schulbau-Institut, das politisch wie inhaltlich als unbelastet galt – und fertigte dort selbstredend auch eigene semiwissenschaftliche Entwurfsaktenordner zur Planung antiautoritärer Schulbauten an.
Ein anderes, weitaus größeres Institut, das gleichfalls als unverdächtig galt und von der Revolte weitgehend verschont blieb, war das von Jürgen Joedicke, dem ich hier nun zum ersten Mal leibhaftig begegnen sollte. Nach Promotion, Habilitation und Lehrtätigkeit als Apl. Prof. war er 1967, also exakt im Jahr meines Hochschulwechsels, zum ordentlichen Professor berufen worden. Umgehend richtete er sein Institut für Grundlagen der Modernen Architektur und Entwerfen ein, welches er bis zu seiner Emeritierung im Jahre 1993 leiten sollte. Er und seine Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter vertraten damit in Lehre und Forschung deutschlandweit erstmals das Fach Architekturtheorie, welches sich erklärtermaßen – wie von den Studenten gewünscht – mit den wissenschaftlichen Grundlagen jeglichen architektonischen Handelns beschäftigte. Joedicke selbst publizierte fleißig, als IGmA-Chef wie auch als Fachjournalist. Dabei war er im klassischen Sinne kein Intellektueller. Ihn interessierten weder (wie etwa Werner Oechslin) die historischen Grundlagen der Architekturtheorie, noch (wie etwa Jörg Gleiter oder Stephan Trüby) die geistesgeschichtlichen Deutungen architektonischer Phänomene. Joedicke betrachtete sich vielmehr als Architekt mit Interesse an gezielten wissenschaftlichen Recherchen auf Feldern wie der Evolutionsgeschichte konstruktiver Tragwerke oder handfesten Aspekte der Planungstheorie. So erlangte die lange Reihe seiner schmalen weißen IGmA-Broschüren zu Themen wie Partizipation in Planungsprozessen einen geradezu legendären Ruf. Sein Bild der modernen Architektur war hingegen hermeneutisch eng determiniert.
Ungeachtet eigener Interessen und Neigungen war Joedicke ab der „Zeitenwende“ 1968 so etwas wie der ruhende Pol des auf wichtigen Positionen fragmentierten Stuttgarter Kollegiums, das zudem auf politischen Druck hin vorübergehend in unterschiedliche Fachbereiche aufgeteilt wurde. Kompaktkurse ersetzten nun Vorlesungen. Und auch manch andere radikale curriculare Neuerung bestimmte den allmählich wieder einsetzenden Regelbetrieb der Lehre. Als Dekan wurde Joedicke alsbald zum einflussreichsten „Spin Doctor“ der personell und fachlich neu aufgestellten Stuttgarter Architekturfakultät. Seine Kriegsverletzung, sein ausgeprägter thüringischer Dialekt und seine stetige Wachsamkeit trugen freilich dazu bei, dass er auf uns Studierende etwas distanziert, spröde bis misstrauisch wirkte. Als Assistent habe ich ihn hingegen später ganz anders erlebt.
In den turbulenten Jahren nach 1967/68 wurde es auf studentischen Druck hin vorübergehend Usus, neue Professoren sozusagen auf Probe zu berufen – und ihre Lehre nach einer gewissen Frist von studentischer Seite evaluieren zu lassen. Gegen Ende meines Studiums gehörten unter anderem auch Johannes Uhl und Antonio Hernandez zu diesem Personenkreis. Während man Johannes Uhl aufgrund des studentischen Votums nicht zum ordentlichen Professor ernennen mochte, ihn von 1971–2015 aber gleichwohl als unangepassten „Freelancer“ an der Uni hielt, wurde Antonio Hernandez 1970 vom Fachbereich Bauplanung endgültig auf die Professur für Baugeschichte und Bauaufnahme berufen. Noch in der Endphase meines Studiums hörte ich seine Vorlesungen und nahm mit wachsender Begeisterung an seinen Seminaren über die französische und russische Revolutionsarchitektur sowie Veranstaltungen und Exkursionen zum Werk Le Corbusiers teil. Hernandez verstand es auf unnachahmliche Weise, Architekturgeschichte lebendig und anregend werden zu lassen, weil er dabei die gesellschaftlichen, geistesgeschichtlichen und kulturhistorischen Hinter- und Beweggründe stärker in den Fokus rückte als die baulichen Artefakte oder deren Schöpfer. In Anlehnung an Günter Bandmann und andere Theoretiker interessierte er sich vorrangig für Architektur als Bedeutungsträger.
Weil Hernandez an meinen Seminararbeiten Gefallen fand, kam es wie es kommen musste: Unmittelbar nach meinem ganz konventionellen Diplom im Jahre 1972 (bei Peter Schenk übrigens) verpflichtete er mich zunächst als Angestellter für Bauaufnahme, ehe ich nach dem Weggang von HPC Weidner zehn Jahre lang als sein Wissenschaftlicher Assistent für das Fach Baugeschichte tätig sein durfte.
Antonio Hernandez – 1923 als Sohn eines Arztes in Deutschland geboren und 1938 mit der Familie in die Schweiz umgesiedelt, wo er nach einem Medizinstudium Kunstgeschichte studierte und mit einer viel beachteten Dissertation abschloss –, dieser Antonio Hernandez sollte sich für die Stuttgarter Uni als regelrechter Glücksfall erweisen. Als erster Kunsthistoriker auf diesem Lehrstuhl beerbte er Harald Hanson, der wie alle Lehrstuhlinhaber zuvor Architekt, Bauforscher und Archäologe gewesen war. Das Wort „beerbte“ sollte wörtlich verstanden werden, weil Hernandez bei seinem Amtsantritt an seinem Lehrstuhl eine Abteilung für Photogrammetrie inklusive entsprechendem Personal und Gerätepark vorfand. Mangels Interesse ließ Hernandez diese Abteilung, die von Gerhard Nagel geleitet wurde und das Fach Bauaufnahme betreute, alsbald „austrocknen“, um sich ganz auf die Architekturgeschichte und – erst mit Cord Meckseper, dann mit Gerhard Nagel – auch auf die Stadtbaugeschichte zu konzentrieren.
Hernandez‘ großes Verdienst bestand darin, nach Jahrzehnten reiner Bauforschung und konventioneller, sprich unkritischer Stilgeschichte den Studierenden ein völlig neues Verständnis der gebauten Umwelt zu vermitteln. Hernandez lehnte stilgeschichtliche Betrachtungen strikt ab. Stattdessen entwarf er ebenso auf- wie anregende Panoramen der jeweils zugrundeliegenden politischen, kulturhistorischen, sozialen und ökonomischen Beweggründe für das jeweilige architektonische Handeln. Er fragte weniger nach dem „was“ als nach dem „warum“. Seine Lehrveranstaltungen befähigten seine Studierenden, Bauwerke „lesen“ zu lernen, intellektuell wie sinnlich begreifen zu lernen, anstatt sie von Stilmerkmalen her einfach nur „abzulegen“. Seine Lehre machte die Baugeschichte tatsächlich zu einer Ideengeschichte von Gebautem, zu einem „Abenteuer der Ideen“. Der Faszination dieses Abenteuers vermochten sich allenfalls hartnäckige Bau-Technokraten zu entziehen.
Epochenmäßig ließ sich Hernandez keinerlei Beschränkung auferlegen. Ja, man könnte sagen, dass er sich mit Verve und Leidenschaft auf die Architekturtheorien des frühen bis späten 19. Jahrhunderts sowie die Theoriegebäude der klassischen Moderne und deren Auswirkungen bis in die Nachmoderne hinein fokussierte. Seine schmalbrüstige, aber wirkmächtige Dissertation mit dem Titel Grundzüge einer Ideengeschichte der französischen Architekturtheorie von 1560–1800 regte ihn zu innovativen Reflexionen und didaktischen Überlegungen zu Themen wie „Reihung und Repetition“, „modulare Entwurfsprinzipien“, „organische Theorien“ oder „Konzeptionen und Gefahren autonomer Architekturen“ an.
Aber auch die unzähligen Publikationen und Bauten Le Corbusiers unterzog Hernandez einer erfrischend kritischen Neubewertung. Er machte uns mit Theoretikern von Bandmann bis Tafuri vertraut. Ohne ihn hätten die Studierenden wohl kaum erkenntnistheoretische Einblicke in die frühen Schriften und idealtypologischen Konzeptionen eines Aldo Rossi erhalten, der seinerseits ja damals bereits die junge Tessiner Architektur maßgeblich beeinflusst hatte. Auch die zeitgenössische Architektur lag Hernandez sehr am Herzen; vor allem das Bauen in der heimatlichen Schweiz. Durch ihn habe ich fast alle Protagonisten der „Tendenza“ sowie die Pioniere der sogenannten „Neuen Tessiner Architektur“ persönlich kennen gelernt, und bin ihnen – soweit sie heute noch leben – freundschaftlich verbunden.
Kurzum, es gab eigentlich kaum eine architekturgeschichtliche Zeitspanne in Europa, die Hernandez nicht zu anregenden Analysen inspiriert hätte. Als Vortragender war er Gast bei Ungers und vielen anderen prominenten Zeitgenossen. Er reiste mit Kleihues und Meinhard von Gerkan durch China, trug bei den Dortmunder Architekturtagen sowie vor britischen und französischen Fachkollegen seine Thesen vor, kooperierte mit Frei Otto; und erfüllte sich ungeachtet all dessen auch noch den Kindheitstraum, einmal im Leben allein im Kanu durch das Amazonas-Delta zu paddeln. Er schaffte sich eigens hierfür eine teure schweizerische Kompassuhr an, die er nach seinem selbstbestimmten Tod im Jahre 2012 gleichsam als persönliches Erbe an mich übertrug. Welch anrührendes, sentimentales Aperçu.
Joedicke hingegen, der ausgebildete Architekt, lehrte und erforschte ab den 1970er Jahren die Komplexität von Entwurfs- und Planungsmethoden. Darüber hinaus versuchte er sich mit mäßigem Erfolg an der semiotischen Wirkung von Gebautem auf Nutzer. Siegfried Maser vom Lehrstuhl Bense war es vorbehalten, uns sehr viel präziser in die Architektursemiotik einzuführen. Aber auch die Strömungen und Tendenzen der modernen Architektur, über die Joedicke ja schon 1969 ein Buch verfasst hatte, beschäftigten ihn natürlich weiterhin. Und sie fanden ihren Niederschlag in der heute wieder nachgefragten 15-bändigen Reihe Dokumente der Modernen Architektur, für die er zwischen 1961 und 1987 namhafte Kollegen aus der ganzen Welt gewinnen konnte. Von seinem Hausverlag Karl Krämer in alle wichtigen Sprachen übersetzt, festigten vor allem die früheren Bände Joedickes Position im internationalen Theoriediskurs.
Natürlich blieb es ihm auf Dauer nicht verborgen, dass sich Antonio Hernandez keinesfalls mit traditioneller Baugeschichte zufrieden geben mochte und immer wieder meinungsbildend auf Joedickes Terrain „wilderte“. Letzterer hat sich meines Wissens nie offiziell darüber beschwert. Aber über seinen Assistenten Egon Schirmbeck, der mit mir zusammen einige Jahre lang als Mittelbauvertreter in den Fakultätsratsssitzungen saß, bekam ich immer wieder mit, dass sich Joedicke über diese oder jene Lehrveranstaltung des Instituts für Baugeschichte und Bauaufnahme doch sehr geärgert habe.
So kam es im Verlauf der 1970er Jahre bis in die frühen 1980er hinein zwischen den beiden Instituten zu einem skurrilen, weil eigentlich stillschweigend und nur mit geschlossenem Visier ausgetragenen Kampf um Meinungs- und Deutungshoheiten in der Stuttgarter Theorielehre. Verschärft wurde die Lage noch dadurch, dass Joedicke der einsetzenden internationalen Postmoderne anfänglich herzlich wenig abzugewinnen vermochte und Hernandez die dadurch entstehende Theorielücke geschickt auszufüllen wusste. Joedicke hat Charles Jencks zwar sehr früh eingeladen, aber zu Inhalt und Rezeption von Venturis Complexity and Contradiction oder Venturis und Scott-Browns Learning from Las Vegas war bei Hernandez definitiv mehr zu erfahren als am IGmA. Joedickes Einlassungen zu Stirlings Staatsgalerie-Erweiterung belegen die Distanz zum damaligen Paradigmenwechsel des nachmodernen Bauens überaus deutlich; obwohl ihm im Jahre 1981 mit dem internationalen Postmoderne-Symposium unter dem Motto „Architektur der Zukunft der Architektur“ doch noch einmal ein Überraschungscoup gelingen sollte.
Es sei an dieser Stelle jedoch nicht verschwiegen, dass sich in der Stuttgarter Architekturausbildung ab Ende der 1960er Jahre, ungeachtet des von mir diagnostizierten „Schattenboxens der Giganten“, auch noch andere Player auf dem Feld der Theorie getummelt haben. Wie zum Beispiel der Philosoph Max Bense, zu dessen Füßen Studierende wie Wissenschaftliche Mitarbeiter Woche für Woche in heillos überfüllten Vorlesungen hockten. Bense, der das Image des politischen „Enfant terrible“ mit Hingabe pflegte, war es, der uns mit seinen kritischen Anmerkungen zu Heidegger, Bloch, Habermas und vielen anderen in den Bann zog. Und seine Vorlesungen zu Fragestellungen der Wissenschaftstheorie, Ästhetik und vor allem der Semiotik machten uns Ahnungslose mit den Theorien von Barthes, Saussure, Umberto Eco und anderen vertraut. Obwohl Benses Vorlesungen im Gegensatz zu denen seines Assistenten Siegfried Maser gar nicht auf Architekten gemünzt waren, nährten sie bei uns dennoch die Hoffnung, dass sie uns eines Tages ein Rezept verraten könnten, wie man die Wirkung von Gebautem auf spätere Nutzer bereits im Planungsstadium wissenschaftlich fundiert vorhersagen könne; eine absurde Hoffnung, wie wir als dilettierende Theoriesüchtige alsbald schmerzlich einsehen mussten.
Handfestere Ziele wurden hingegen von Benses Schwiegersohn Michael Trieb aus dem Städtebau-Institut erwartet. Schließlich war er es, der ab 1971 als Lehrbeauftragter und späterer Professor die Stadtgestaltung als eigenständiges Arbeitsfeld der Stadtplanung etabliert und sich der Entwicklung beziehungsweise Anwendung von Wahrnehmungs- und Entwurfsmodellen zur Stadtgestalt und zum Stadtbild verschrieben hatte. Trieb führte uns in die Stadtbildforschungen von Kevin Lynch ein und profitierte bei konkreten Feldversuchen unter anderem auch von einer sich radikal reformierenden Denkmaltheorie. Der zunächst regional operierende Vordenker Michael Trieb verwandelte sich binnen weniger Jahre zu einem weltweit gefragten Berater und Netzwerker für Stadtgestaltungsfragen.
Ein weiterer außerordentlich einflussreicher Mitspieler in der Theorie-Riege war der ausgebildete Mathematiker, Physiker und Soziologe Horst Rittel, der von 1958 bis 1963 erfolgreich als Lehrer für Designmethodologie, Wissenschafts- und Kommunikationstheorie sowie Systemtheorie an der Hochschule für Gestaltung (HfG) Ulm tätig war. 1973 erfolgte gegen Joedickes Vorbehalte seine Berufung an die Uni Stuttgart. Rittel wurde zum Direktor und Professor des Institutes für Grundlagen der Planung ernannt. Frei nach dem Motto „wir sind doch alle Designer“ war seine an die HfG-Zeit angelehnte Lehre bei den Studierenden sehr beliebt. Rittels Vorlesungen und Kurse zur Planungs- und Kommunikationstheorie galten als curriculare Highlights. In ihnen erfuhren wir unter anderem von den Thesen des frühen Christopher Alexander. Bei seinen Kollegen hingegen stieß der Umstand, dass Rittel bereits seit 1963 eine Professur für Science of Design an der University of California in Berkeley innehatte, die er bis zu seinem frühen Tod auch nie aufgeben wollte, auf Ablehnung und Neid. Rittel, der sich von seiner Berufung an als entschiedener Filbinger-Gegner outete, war trotz anfänglicher Vorbehalte mit Joedicke befreundet. Später kam es freilich zu einem Bruch zwischen den beiden.
Als letzte, allerdings basisorientierte Theorie-Instanz wären die Hefte der Zeitschrift ARCH+ anzuführen, die ab Januar 1968 als Studienhefte für architekturbezogene Umweltforschung und -planung von Mittelbauern wie Ulrich Bäte, Peter Dietze, Dieter Hezel, Wolfram Koblin, Peter Lammert, Gernot Minke und Aylâ Neusel sowie zahlreichen Helfern und Korrespondentinnen herausgegeben wurden. Selbstredend war ich wie fast alle Mittelbauer Abonnent der ersten Stunde. Obwohl mir als Architekturhistoriker das Verstehen der hochintelligenten, abbildungsfreien, stattdessen mit Tabellen, Diagrammen und mathematischen Formeln vollgestopften Hefte anfänglich etwas schwerfiel. Aus heutiger Sicht spiegelten aber genau diese Hefte sehr präzise und geradezu visionär die Sehnsucht nach Verwissenschaftlichung der Architektur wider. So bin ich glücklich, dass Dieter Lammert mir die abhanden gekommene legendäre Nummer 1 von ARCH+ erst kürzlich zur Arrondierung meiner Sammlung geschenkt hat. Wer hätte seinerzeit gedacht, dass sich diese ARCH+ nach vielerlei Metamorphosen zur derzeit einflussreichsten und inhaltlich wertvollsten Zeitschrift zur Theorie und Praxis der Architektur mausern würde?
Doch zurück zu den beiden in ein imaginäres Theoriegefecht verwickelten Professoren Joedicke und Hernandez. Ersterer ist mir persönlich stets wohlwollend begegnet. Als ich in den 1970er Jahren eine erste kritische Studie über Paul Bonatz und die Stuttgarter Schule veröffentlicht habe, da brach das über mich und meine Familie herein, was man heute „Shitstorm“ nennt. Unaufgefordert hat sich Joedicke damals schützend vor mich gestellt. Und als kurz darauf Wilhelm Tiedje persönlich beim Dekan Joedicke aufkreuzte und ihn ultimativ anwies, mir ein sofortiges Schreibverbot aufzuerlegen, da zögerte Joedicke (wie ich erst sehr viel später erfahren habe) keine Sekunde, um dieses Ansinnen barsch abzulehnen. Und noch Jahre danach hat er mich als vergleichender Gutachter in zwei Berufungsverfahren auf C4-Stellen entgegen meinen Erwartungen tatkräftig unterstützt.
Und dennoch gab es sowohl bei Joedicke als auch bei Hernandez jeweils etwas, was ich „blinde Flecken“ nennen möchte. Damit meine ich im Falle des IGmA-Chefs nicht etwa dessen Streit mit Vittorio Magnago Lampugnani, sondern vielmehr dessen Umgang mit dem Thema „Weißenhofsiedlung“: Zu ihm, dem „Gralshüter“ der klassischen Moderne, der zusammen mit Christian Plath ja selbst ein kleines Kompendium über die Siedlung publiziert hatte, kamen im Verlauf der 1970er und 1980er Jahre immer wieder junge Absolventinnen und Absolventen aus aller Welt, die über die Weißenhofsiedlung promovieren wollten und deshalb seinen Rat suchten. All diesen Dissertationswilligen riet Joedicke ab mit dem Hinweis, dass so gut wie alle Unterlagen über die Weißenhofsiedlung im Zweiten Weltkrieg zerstört worden seien. Selbst Karin Kirsch bekam dies zu hören, als sie in den 1980er Jahren mit den Recherchen zu ihrem Standardwerk über die Siedlung begann und feststellte, welche Materialfülle trotz Joedickes Aussagen faktisch immer noch vorhanden waren. Gleichfalls in den 1980ern lud mich der Kunsthistoriker Christoph Frommel von der Hertziana nach Rom ein, um mit ihm zusammen an der Sapienza ein kleines Weißenhofsymposium zu veranstalten. Ich selbst hielt dort einen Vortrag über die historische Doppelbödigkeit des Avantgarde-Begriffs, der für heftige Diskussionen sorgte. Im Verlauf des Symposiums trat dann eine junge italienische Kollegin auf, welche ihr Dissertationsprojekt über die Weißenhofsiedlung vorstellte. Sie begann ihren Vortrag mit der Schilderung eines Besuchs bei Joedicke, bei dem dieser trotz Karin Kirschs erfolgreicher Nachforschungen immer noch darauf bestanden habe, dass es zur Weißenhofsiedlung keinerlei Unterlagen mehr gebe. Warum Joedicke in all den Jahren so „ahnungslos“ agiert hat und nicht selbst mit einem eigenen opus magnum in die reputationsfördernde Weißenhofforschung eingestiegen ist, das ist mir bis heute ein Rätsel geblieben.
Auch bei Antonio Hernandez hat es einen „blinden Fleck“ gegeben. Damit meine ich weniger seine rührende Unbeholfenheit im Umgang mit bautechnischen oder konstruktiven Belangen. Vielmehr haben wir ihm, der für uns zu den gebildetsten und eloquentesten Nachdenkern über ideengeschichtliche Zusammenhänge des Architekturgeschehens zählte, über Jahre hinweg damit in den Ohren gelegen, dass er doch bitte seine ureigene Neuschreibung einer europäischen Architekturgeschichte publizieren möge – oder wenigsten eine Anthologie seiner wichtigsten Vorträge. Und immer wieder sind wir dabei auf taube Ohren gestoßen. Er, der gleichsam aus dem Stand heraus schriftreif argumentieren konnte, wollte oder konnte partout kein opus magnum mehr schreiben. So bleibt außer seiner schmalen, relativ unzugänglichen Dissertation nur die Erinnerung an einen vorzüglichen Hochschullehrer, dem ich persönlich fast alles verdanke, was ich geworden bin. Aber Erinnerungen verblassen. Und so wird der Name Hernandez vermutlich irgendwann nur noch in Archiven aufzufinden sein.
Ganz anders als der Name seines imaginären Kontrahenten Joedicke, der Zeit seines Lebens eine Arbeit nach der anderen publiziert hat. Die Mehrzahl dieser Werke wird relevant bleiben, weil sie als Handbücher ziemlich präzise die einschlägigen Forschungsstände der jeweiligen Epoche reflektieren. Und dass er in seiner Reihe Dokumente der modernen Architektur ausgerechnet den Band über einen der gebrochensten Vertreter der klassischen Moderne – Hugo Häring – selbst verfasst hat, das kann man ihm bis heute nicht hoch genug anrechnen. Während also das Wirken von Antonio Hernandez sukzessive verblassen würde, hätte es Klaus Jan Philipp nicht in seinem Sinne weiterentwickelt, sind Werk und Wirkung Jürgen Joedickes unverrückbar in die Annalen des immerhin schon über fünfzig Jahre alten IGmA eingeschrieben. Nach Werner Durth und Gerd de Bruyn lenkt Stephan Trüby seit 2018 dessen Geschicke und hat das Institut mit innovativen Themen und Schwerpunktsetzungen neu aufgeladen. Wenn das kein Grund zur Freude ist!
Frank R. Werner war von 1993 bis 2011 Professor für Architekturgeschichte und Architekturtheorie an der Bergischen Universität Wuppertal.